Zwei – Einundsiebzig
Unterwegs zur U-Bahn-Station fällt mir ein seltsamer Mann auf. Er ist etwa in meinem Alter, trägt einen weißen Pullover und eine weiße Jogginghose, an deren Rückseite ich einen aufgenähten Strichcode erkenne. Die besockten Füße stecken in Filzpantoffeln. Er schlurft vor mir her. Es ist Anfang Dezember, ihm muss kalt sein. Direkt hinter ihm reihe ich mich auf der Rolltreppe ein. Als er den Pulloverärmel ein wenig hochkrempelt, erhasche ich einen Blick auf das Armbändchen ums Handgelenk, auch darauf ein Strichcode und mehrere Zeilen klein gedruckter Text. Ein entlaufener Patient, denke ich. Unten am Bahnsteig angekommen spreche ich ihn an.
Er spricht sehr gut Deutsch – zwar mit starkem Akzent, grammatikalisch jedoch fast einwandfrei. Heimlich linse ich auf sein Armbändchen, das ihn als Patienten der psychiatrischen Abteilung eines Spitals in Niederösterreich ausweist. Ich frage ihn, ob er im Krankenhaus war. Ja, sagt er, in der Rudolfstiftung. Das ist gleich hier in der Nähe, auch ich war schon dort. Er muss in die Stadt verlegt worden sein. Ich frage mich, weshalb er noch das Bändchen des Vorgänger-Spitals trägt.
Die U-Bahn kommt, wir steigen ein. Ich spreche ihn mit seinem Namen an, den mir das Armbändchen verraten hat. Beide Handrücken sind mit Narben von ausgedrückten Zigaretten übersät. Er lächelt. Woher er komme? Aus Afghanistan. Ob er einfach so hinausspaziert sei aus der Rudolfstiftung? Ja. Ob er denn nicht meine, dass die Leute dort sich Sorgen machen, wenn einer ihrer Patienten plötzlich abgängig sei? Er schüttelt unschlüssig den Kopf. Ob ich nicht anrufen solle, um Bescheid zu sagen, dass er bei mir sei? Nein, sagt er bestimmt. Ich stelle mich vor, um sein Vertrauen zu gewinnen – es mir zu erschleichen. Wohin wolle er denn? Zum Praterstern. Warum? Weil er Schuhe brauche, es sei kalt. Ich stimme zu und reibe mir demonstrativ die Hände.
Ich überrede ihn, schon bei Wien Mitte mit mir auszusteigen. Ich schwärme vom warmen Büro der Wiener Linien, von dort aus könne ich in der Rudolfstiftung anrufen und erklären, dass er mit mir zusammen sei, sie sich also keine Sorgen zu machen bräuchten. Bei den Wiener Linien wüssten sie auch bestimmt, wie man an Schuhe für ihn komme. Ohne Murren geht er mit; die Vorstellung eines warmen Büros scheint ihm zu gefallen, und jene von festen Winterschuhen.
Es gibt keine Sitzgelegenheiten, wir bleiben an einem Stehtisch neben den Schaltern. Ich finde die Nummer des Krankenhauses. Drei Mal lässt man mich dieselbe Geschichte erzählen, muss ich den Namen des entlaufenen Patienten buchstabieren, erst beim vierten Mal, als ich endlich in die richtige Abteilung verbunden worden bin, scheint man sich ernsthaft für mein Anliegen zu interessieren. Ich lasse es mir nicht nehmen, verärgert zu seufzen, ich wolle nicht noch ein fünftes Mal alles von vorn erzählen. Ja, der gehört zu uns, sagt die Frauenstimme knapp. Wir schicken jemanden vorbei. Mitjemandemmeint sie die Polizei. Ich mache mir Sorgen, er könnte beim Anblick der Uniformierten Reißaus nehmen, schließlich hat er vorhin in der U-Bahn, als ich ihn fragte, ob ich die Polizei verständigen solle, erschrocken die Augenbrauen hochgerissen und energisch verneint. Keine Polizei! Wie ein trauriger Filmheld, wenn er sich einem Freund anvertraut, der ihm aus der Patsche helfen soll, denke ich.
Mein Patient ist ein im wahrsten Sinne des Wortes gebranntes Kind. Wer weiß, welche Erfahrungen er schon machen musste und wie schlecht diese waren. Ich erzähle ihm nicht, dass jemand vorbeigeschickt werde, sondern weise ihn an, mit mir hier zu warten. Es werde sich jemand um Schuhe für ihn kümmern. Er lächelt einverstanden.
Seine Bewegungen sind ungelenk, fahrig, sein Gebaren erweckt Misstrauen. Z