I.
Lesen und nachdenken würde sie auf der Reise, nahm sich Klara beim Kofferpacken vor, wenn sie schon ihrer Flugangst nachgab und mit dem Eurocity nach Prag fuhr. Es eilte ja nicht. Solveig war schon drei Tage tot, als sich gestern Nachmittag ihr Ehemann meldete und seine Schwägerin bat, die sterbliche Hülle ihrer Schwester nach Hause zu holen. Die dazu nötigen Papiere seien schon ausgefertigt, sie müsse sich nur bei der Klinik-Verwaltung melden, alles Weitere laufe wie von selbst.
Der Sarg könne zwar auch allein zurückkommen, hatte Konrad zugegeben. Letztlich aber sei es wohl eine Frage der Würde, dass man Verstorbene nicht ohne Begleitung auf ihre letzte Reise schicke – solange sie noch Verwandte besäßen. Und sie, Klara, habe doch Zeit, während er selbst morgen nach New York aufbrechen müsse, zur Neuverhandlung der Verwertungsrechte einiger Bücher, darunter die zwei letzten seiner arbeitssüchtigen Frau.
„Solveigs amerikanischer Agent ist ein harter Hund, bekannt dafür, dass er deutsche Juristen gerne aufs Kreuz legt. Den Rückflug habe ich übrigens schon gebucht, für dich und deine Schwester. Ich möchte es dir so leicht wie möglich machen. In längstens drei Tagen bist du wieder zu Haus. Nein, um die Begräbnisfeierlichkeiten musst du dich nicht kümmern.“
Auf dem zugigen Bahnsteig im Untergeschoß des Berliner Hauptbahnhofs warteten höchstens zehn Reisende. Keine Rucksacktouristen, die sich durch die Prager Gassen drängeln wollten, keine Schulklassen mit nervösen Lehrern. Und im Erste-Klasse-Abteil, wo sich Klara einen Platz reserviert hatte, saß gleichfalls nur ein Passagier. Sie zögerte ein paar Sekunden, vielleicht war das nächste ja leer. Da hatte sich der Mann, der am Fenster saß, jedoch schon halb erhoben und ihr höflich erklärt, dass er ihr wegen seines vermaledeiten Rückens den Koffer leider nicht ins Gepäcknetz hieven könne. Wenn das Ding am Boden bleibe, sei dies freilich auch nicht weiter schlimm, mit großer Wahrscheinlichkeit werde sie bis Prag kein Mensch mehr stören.
„Selbst die Goldene Stadt ist im Januar trüb und leer, wissen Sie. Selten Schnee, keine Sonne, keine Weihnachtsbeleuchtung mehr. Den jüdischen Friedhof haben Sie ganz für sich alleine, das Café Slavia ist verwaist, in den Straßenbahnen wird nur noch Tschechisch gesprochen. Entschuldigen Sie, dass ich mich so breitgemacht habe. Wenn man Zeitung liest, wird man automatisch expansiv.“
Er sprach, wie einst am Burgtheater gesprochen wurde, in ihrer Vorstellung wenigstens: kultiviert und sonor, mit einem eingebauten, sich dezent äußernden Vibrato, als schicke er seine Stimme über eine imaginäre Bühne, obwohl er nur in einem Eisenbahnabteil saß. Ohne Eile pflückte er die aufgeschlagenen Seiten einiger internationaler Journale von der gegenüberliegenden Bank, lächelte Klara an und zog seine Beine unter den Sitz. Vermutlich ist er ein baumlanger Kerl, dachte sie, die sich vor Riesen fürchtete. Die Nickelbrille auf seiner Nase war eindeutig zu klein für seine ausladende Gestalt, seine tiefschwarze Kleidung ließ ihn massig wie ein Felsblock erscheinen. Weil sie sich aber zu Smalltalk nicht verpflichtet fühlte und über die Nähe zu Wildfremden, die einem stundenlanges Bahnfahren aufzwang, gar nicht erst nachdenken wollte, lächelte sie zurück, freundlich und flüchtig zugleich. Flugzeuge und Fahrstühle waren viel bedrohlicher. Und selbst wenn sie das nächste oder übernächste Abteil wirklich für sich allein gehabt hätte – wer sagte, dass nicht in Dresden oder sonstwo auf der Strecke noch jemand zustiege?
Weitergehen war für sie immer schon schwierig gewesen, wenn sie erst einmal angehalten hatte, kompliziert genug jedenfalls, um darüber nac