: Gabriele Weingartner
: Geisterroman
: Limbus Verlag
: 9783990390863
: 1
: CHF 8.70
:
: Erzählende Literatur
: German
: 256
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Klara reist mit dem Zug nach Prag, wo sie ihre verstorbene Schwester abholen soll, und hätte mit ihrer Familiengeschichte und ihrer gescheiterten Ehe genug nachzudenken, ihr Sitznachbar ist zudem Kafka-Forscher. Da bleibt der Zug im Schneesturm stecken und vermischt sich sonderbarerweise mit jenem Zug, in dem sich Franz Kafka und Otto Gross - Freud-Schüler und skandalumwobener Psychoanalytiker - am 18. Juli 1917 zufällig begegneten. Nun vermengen sich Sommer und Winter, Gestern und Heute, Mögliches und Unmögliches - Kafka gerät in eine Schneeballschlacht und plant mit Gross die Gründung der Blätter zur Bekämpfung des Machtwillens, Klara trifft ihren Exmann, Rekruten fahren nach Galizien - und warum ist Solveig ausgerechnet in Prag gestorben? Ein Geisterroman, und viel mehr als ein Familienroman - Macht und Erziehung, Gewalt und Liebe, Literatur und Rezeption und nicht zuletzt Franz Kafka durchdringen die Jahrhunderte!

Gabriele Weingartner, Kulturjournalistin und Literaturkritikerin, wurde 1948 in Edenkoben/Pfalz geboren, studierte Germanistik und Geschichte in Berlin und Cambridge (Massachusetts). Nach zwei Jahrzehnten im pfälzischen St. Martin lebt sie seit 2008 wieder in Berlin. Zahlreiche Literaturpreise und Stipendien, war u. a. unter den Finalisten für den Alfred-Döblin-Preis 2013, Mitglied des P.E.N.-Zentrums Deutschland. Veröffentlichungen (Auswahl): Bleiweiß (2000), Die Leute aus Brody (2005). Bei Limbus: Tanzstraße (2010), Villa Klestiel (2011), Die Hunde im Souterrain (2014), Geisterroman (2016) und Leon Saint Clairs zeitlose Unruhe (2019).

I.

Lesen und nachdenken würde sie auf der Reise, nahm sich Klara beim Kofferpacken vor, wenn sie schon ihrer Flugangst nachgab und mit dem Eurocity nach Prag fuhr. Es eilte ja nicht. Solveig war schon drei Tage tot, als sich gestern Nachmittag ihr Ehemann meldete und seine Schwägerin bat, die sterbliche Hülle ihrer Schwester nach Hause zu holen. Die dazu nötigen Papiere seien schon ausgefertigt, sie müsse sich nur bei der Klinik-Verwaltung melden, alles Weitere laufe wie von selbst.

Der Sarg könne zwar auch allein zurückkommen, hatte Konrad zugegeben. Letztlich aber sei es wohl eine Frage der Würde, dass man Verstorbene nicht ohne Begleitung auf ihre letzte Reise schicke – solange sie noch Verwandte besäßen. Und sie, Klara, habe doch Zeit, während er selbst morgen nach New York aufbrechen müsse, zur Neuverhandlung der Verwertungsrechte einiger Bücher, darunter die zwei letzten seiner arbeitssüchtigen Frau.

„Solveigs amerikanischer Agent ist ein harter Hund, bekannt dafür, dass er deutsche Juristen gerne aufs Kreuz legt. Den Rückflug habe ich übrigens schon gebucht, für dich und deine Schwester. Ich möchte es dir so leicht wie möglich machen. In längstens drei Tagen bist du wieder zu Haus. Nein, um die Begräbnisfeierlichkeiten musst du dich nicht kümmern.“

Auf dem zugigen Bahnsteig im Untergeschoß des Berliner Hauptbahnhofs warteten höchstens zehn Reisende. Keine Rucksacktouristen, die sich durch die Prager Gassen drängeln wollten, keine Schulklassen mit nervösen Lehrern. Und im Erste-Klasse-Abteil, wo sich Klara einen Platz reserviert hatte, saß gleichfalls nur ein Passagier. Sie zögerte ein paar Sekunden, vielleicht war das nächste ja leer. Da hatte sich der Mann, der am Fenster saß, jedoch schon halb erhoben und ihr höflich erklärt, dass er ihr wegen seines vermaledeiten Rückens den Koffer leider nicht ins Gepäcknetz hieven könne. Wenn das Ding am Boden bleibe, sei dies freilich auch nicht weiter schlimm, mit großer Wahrscheinlichkeit werde sie bis Prag kein Mensch mehr stören.

„Selbst die Goldene Stadt ist im Januar trüb und leer, wissen Sie. Selten Schnee, keine Sonne, keine Weihnachtsbeleuchtung mehr. Den jüdischen Friedhof haben Sie ganz für sich alleine, das Café Slavia ist verwaist, in den Straßenbahnen wird nur noch Tschechisch gesprochen. Entschuldigen Sie, dass ich mich so breitgemacht habe. Wenn man Zeitung liest, wird man automatisch expansiv.“

Er sprach, wie einst am Burgtheater gesprochen wurde, in ihrer Vorstellung wenigstens: kultiviert und sonor, mit einem eingebauten, sich dezent äußernden Vibrato, als schicke er seine Stimme über eine imaginäre Bühne, obwohl er nur in einem Eisenbahnabteil saß. Ohne Eile pflückte er die aufgeschlagenen Seiten einiger internationaler Journale von der gegenüberliegenden Bank, lächelte Klara an und zog seine Beine unter den Sitz. Vermutlich ist er ein baumlanger Kerl, dachte sie, die sich vor Riesen fürchtete. Die Nickelbrille auf seiner Nase war eindeutig zu klein für seine ausladende Gestalt, seine tiefschwarze Kleidung ließ ihn massig wie ein Felsblock erscheinen. Weil sie sich aber zu Smalltalk nicht verpflichtet fühlte und über die Nähe zu Wildfremden, die einem stundenlanges Bahnfahren aufzwang, gar nicht erst nachdenken wollte, lächelte sie zurück, freundlich und flüchtig zugleich. Flugzeuge und Fahrstühle waren viel bedrohlicher. Und selbst wenn sie das nächste oder übernächste Abteil wirklich für sich allein gehabt hätte – wer sagte, dass nicht in Dresden oder sonstwo auf der Strecke noch jemand zustiege?

Weitergehen war für sie immer schon schwierig gewesen, wenn sie erst einmal angehalten hatte, kompliziert genug jedenfalls, um darüber nac