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Geh nach Nimmerland
Große Einöde, heute, im Jahre 2303
Der Koloss rannte auf sie zu, wollte sie zermalmen. Sie spürte sein schnelles Stampfen bis hinauf in die Brust. Er war jetzt nahe genug, dass sie weit oben sein Gesicht erkennen konnte. Sein Gesicht unter den wehenden, goldblonden Haaren. Es war Yori.
Sie riss die Augen auf. Tageslicht flutete in ihren Schädel. Das Stampfen in der Brust war noch da – ihr hämmerndes Herz. Es pumpte die Angst in eisigen Wellen durch ihre Adern.
Nur ein Albtraum, dachte sie. Doch sie wusste, dass das nicht stimmte. Die Wahrheit war, dass sie aus einem furchtbaren Albtraum in etwas noch viel Schlimmeres geflohen war, etwas, aus dem es kein Entrinnen gab: die Wirklichkeit.
Ihre Muskeln waren steif vor Angst. Sie konnte sich nicht bewegen, wollte sich nicht bewegen, denn das hätte bedeutet, sich dem Schrecken zu stellen, in den sie durch ihr Aufwachen zurückgekehrt war.
Der Blick, mit dem ihr kleiner Bruder Yori sie in dem Traum angesehen hatte, in dem er sie hatte zertreten wollen wie ein wertloses Insekt, war so eindeutig gewesen. Hatte sich wie ein glühendes Messer in ihr Herz gebohrt.
»Du hast mich verraten«, sagte dieser Blick. »Du hast mich im Stich gelassen, hast zugelassen, dass sie mich mitnehmen. Jetzt fürchte ich mich zu Tode, Wendy, und du bist schuld!«
Mit einem Ruck setzte sie sich auf, presste die Hände auf die Ohren. Sie wollte das nicht hören!
Ich wünschte, du hättest mich zertreten, Yori. Ich wäre nie wieder aufgewacht. Nichts anderes verdiene ich.
Mit weit aufgerissenen Augen starrte sie in das grelle Morgenlicht der Einöde. Etwas bewegte sich in ihrem Augenwinkel. Ohne den Kopf zu drehen, sah sie hin. Es war eine Eidechse, grün schillernd, handspannenlang. Ein fetter Brocken.
Wie auf Kommando knurrte ihr Magen. Sie lauschte darauf. Ihr war übel vor Hunger. Ein harmloses, einnormales Gefühl. Begierig griff sie nach diesem Gefühl, es drängte die Schrecken in den Hintergrund.
Behutsam nahm sie die Hand vom rechten Ohr, löste ihre Luftdruckpistole vom Gürtel und legte sie auf den Oberschenkel. Dann tastete sie nach ihrem Hüftbeutel und fingerte einen Stein heraus. Sie brauchte nicht hinzusehen, um ihn in der Abschusskammer zu platzieren. Den Kolben zog sie mit den Fingerspitzen Stück für Stück heraus, während sie die Waffe mit der Handfläche auf ihren Oberschenkel drückte.
Die Eidechse saß reglos da, schien Wendys andere Hand zu beobachten, die noch immer auf das linke Ohr gepresst war. Als wollte sie sagen: »Was machst du da? Tut dir was weh?«
Ja, mir tut etwas weh. Mein Herz tut mir weh. Es fühlt sich an wie ein blutiger Klumpen.
Wendy biss sich auf die Lippe, um sich durch den körperlichen Schmerz vom seelischen abzulenken.
Konzentrier dich!
Sie hob die Waffe. Kurz zuckte die Zungenspitze des Tieres hervor, der Kopf ruckte eine Winzigkeit herum. Wendy stoppte in der Bewegung.Langsam. Ganz langsam weiter. Bis vor die Augen. Sie kniff eines zu, mit dem anderen starrte sie durch die Zielvorrichtung. Die Eidechse schillerte im Sonnenlicht.
Kimme.
Korn.
Wendy atmete aus. Ihre Hand war jetzt vollkommen ruhig.
Schuss.
Swiffff! Der Luftdruckkolben zischte, als der Stein abgeschossen wurde. Der Kopf der Eidechse prallte zurück, das Tier brach zusammen.
»Guten Morgen, Wendy, Frühstück!«, hörte sie die warme Stimme ihrer Mutter in Gedanken sagen. Dann brach sie in Tränen aus.
Hitze flirrte über dem hartgebackenen Sand der Einöde, nur hier und da krallten sich trockene Büsche in die Risse im Boden, gaben dem Auge Halt und vermittelten die Illusion von Lebendigkeit. Genau genommen gab es zwischen den Büschen Leben, aber es war spärlich und rau wie die Landschaft. Hier draußen war es anders als zu Hause in der Schluchtsiedlung. Zwar wurde diese ebenfalls von Schmirgelsand beherrscht, der sich unter die Kleidung schummelte und in jede Ritze der Behausungen zwängte, doch gab es dort auch Schatten und Wasser und Grünpflanzen. Das Wasser zog Vögel und Molche an, sogar Fische verirrten sich des Öfteren aus den verborgenen Zuflüssen zu ihnen in die felsenüberdachte Enklave.
Zu Hause. Ein Begriff, dessen Bedeutung sich am Vortag – dem Tag der Schuld – in Luft aufgelöst hatte.
Wendys Schritte knirschten gleichmäßig. Sie ließ sich von dem dünnen Geräusch und dem krümeligen Gefühl unter den Ledersohlen einlullen. Anfangs stellte sie sich noch vor, ihre Füße wären Zähne, die mürbes Gebäck zermalmten. Später dachte sie nichts anderes mehr als:Links, rechts, links, rechts. Blick auf den Boden heften, gelegentlich aufsehen, einen Fuß vor den anderen setzen.
Links, rechts, links, rechts.
Die Hitze nahm beständig zu. Wendy verfolgte, wie ihr Schatten sich mit der Zeit wandelte. Nach dem Eidechsenfrühstück hatte er noch zwei Schritt Länge gehabt, mittlerweile war er zu einem bescheidene