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Liturgie im gesellschaftlichen Umfeld
1.1Christliche Liturgie in den multiplen Modernen
Hinter dem Wort »Liturgie« verbirgt sich eine Fülle von Feierformen, die auf ganz verschiedene Weise mit dem Leben der Kirche, der Gesellschaft und des Einzelnen verbunden sind und sehr unterschiedliche Deutungen erfahren. »Liturgie« ist ein Begriff, der zwar in der Abstraktion und Distanz Analyse und Erkenntnis erleichtert, zugleich aber immer um die Spezifika und Unterschiede konkreter Liturgiefeiern zu ergänzen ist. Unsere Einführung in die Liturgiewissenschaft geht entsprechend vor: Sie stellt jene Aussagen und Erkenntnisse zusammen, die im Hinblick auf das Phänomen »Liturgie« allgemein formuliert werden können, und wendet sie auf konkrete Liturgiefeiern an.
Beispiele für die Vielfalt des liturgischen Lebens der Kirche lassen sich rasch zusammentragen.
Im Mittelpunkt der katholischen Kirchengemeinde steht die sonntägliche Eucharistie als Feier der Auferstehung Christi – eine Liturgie mit klarem Anlass (wöchentliche Feier des Ostergeheimnisses als Mittelpunkt christlicher Existenz) zu einem fixen Termin (dem Sonntag) und in der Regel an einem bestimmten Ort (Gemeindekirche), mit einer, was die Teilnahmevoraussetzungen betrifft (Initiation), relativ deutlich umrissenen, auch konfessionell abgegrenzten Teilnehmergruppe und einer durch kirchliche Ordnungen definierten Verteilung der Ämter und Rollen. Diese Liturgie soll den Vorgaben und Texten (Lesungen, Orationen, Hochgebet etc.) liturgischer Bücher, des Lektionars, Evangeliars oder Messbuchs, folgen. Sie ist also kirchlich geordnete Liturgie, für die aber erhebliche Gestaltungsspielräume bestehen. Als Gründe für die kirchlich vorgegebene Ordnung werden die notwendige Strukturierung menschlicher Versammlung, das Bemühen um Orthodoxie in der Liturgie, die Ausdruck des Glaubens der Kirche ist, die Einbindung der Liturgie in die Kirche und die Sicherung des theologischen und kulturellen Niveaus der Liturgie genannt (Klöckener/122). Variationen zwischen den Liturgien verschiedener Ortskirchen stammen darüber hinaus entweder aus Inkulturation, also der Interaktion verschiedener Kulturen, oder aus selbst eingeräumten Gestaltungsfreiheiten. Der Liturgie wird die Aufgabe der Konstituierung von Kirche zugewiesen: Aus der Eucharistie heraus soll Kirche jeweils neu entstehen. Diese Liturgie besitzt also eine stark binnenkirchliche Bedeutung, wird aber auch in der Gesellschaft als Handeln einer gesellschaftlichen Gruppe wahrgenommen und toleriert.
Aufgrund des massiven Priestermangels ist für eine wachsende Zahl von Christen am Sonntag die Feier der Eucharistie in der Gemeinde bzw. am Kirchort innerhalb der jeweiligen Großpfarrei nicht mehr möglich. Wenn in solchen Fällen eine Wort-Gottes-Feier begangen wird, zeigt dies, welche Bedeutung die sonntägliche gemeinschaftliche Liturgiefeier in einer kirchlich verantworteten Form für die Existenz der Kirche besitzt. Im Mittelpunkt dieser Feier stehen die Verkündigung des Wortes Gottes, Besinnung und Gebet. Die Feiern werden von Männern und Frauen aus der Gemeinde geleitet, die eine bischöfliche Beauftragung haben. Für diese Gottesdienste gibt es kirchenamtliche Vorlagen (s. unten 208–211).
Blickt man allein auf die Fülle der Erscheinungsformen kirchlich verantworteter Liturgie, trifft man auf zahlreiche »Liturgien«. Dazu gehören so unterschiedliche Feiern wie die