: Christine Koschmieder
: Trümmerfrauen Ein Heimatroman
: Edition Nautilus
: 9783960542216
: 1
: CHF 16.10
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: Erzählende Literatur
: German
: 304
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
'Und während wir noch ironisch verharmlosen, tanzt das ?Neue Denken? wie Rumpelstilzchen ums Feuer. Heute hol ich mir den Heimatbegriff, morgen das Volk, und übermorgen setze ich in die Praxis um, was hinter der Rhetorik steckt.' Am Vorabend des Erntedankfestes besteigen Lou und Ottilie einen seniorengerechten Vier-Sterne-Reisebus, um eine Reise nach Thüringen und in die deutsche Vergangenheit anzutreten - zum Kyffhäuser-Denkmal. Lous zwanzigjähriger Sohn Anatol sitzt derweil betrunken in einem Flugzeug von den USA nach Deutschland und rekapituliert vor zwei Spielzeugnilpferden seinen Versuch, mit Hilfe einer Fruchtbarkeits-App eine Bilderbuchfamilie zu gründen. Und während die deutschtümelnde Leipziger Kleingartenanlage fu?r das Erntedankfest aufrüstet, bereitet sich auch Karola auf die Verteidigung der Heimat vor, denn sie hat es satt, sich vom Kapitalismus ihre Geschichte diktieren zu lassen. 48 Stunden später kommt es zum Showdown: Anatol fesselt Karola an einen Baum, Kohlköpfe werden gesprengt und alle von ihrer eigenen Geschichte eingeholt, bis hin zur furchtbaren 'Aktion Erntefest' 1943 im Generalgouvernement Polen. Die Tür zwischen Fiktion und Realität ist in diesem rasanten Roman weit aufgerissen. Im Stil einer literarischen Kreissäge fräst sich 'Trümmerfrauen' durch deutsche Geschichte und lässt Lebenswirklichkeiten aus Ost und West, Gegenwart und Vergangenheit aufeinanderprallen. Eine kämpferische Erzählstimme, die trotz ihrer berechtigten Wut nie die Empathie fu?r ihre Figuren verliert.

Christine Koschmieder, geboren 1972 in Heidelberg, lebt und arbeitet seit 1992 in Leipzig. Studium der Theater-, Medien- und Kommunikationswissenschaft. Zehn Jahre Off-Theater. Fundraiserin, Übersetzerin und Gründerin der Literaturagentur Partner + Propaganda fu?r zeitgenössische Literatur aus Deutschland, Post-Jugoslawien und dem US-amerikanischen Hinterland. 2013 und 2016 war sie Stipendiatin der Kulturstiftung des Freistaats Sachsen. 2018 Residenzstipendium am Goethe-Institut Thessaloniki. 2014 erschien ihr Debu?troman 'Schweinesystem' (nominiert fu?r den aspekte-Literaturpreis).

Es geht alles vorüber


Die automatischen Glastüren schließen sich hinter ihr und das Senioren- und Pflegeheim Andersen Nexö empfängt sie in seiner gedämpften Welt. Es riecht nach Desinfektionsmittel, Carnaubawachs und Mittagessenvorbereitung (irgendwas mit Schmorzwiebeln). Auf Lous Stirn liegt ein dünner Schweißfilm. Sie spürt die Feuchtigkeit in ihrer Handfläche, als sie die Türklinke drückt. Die Wollmützewar ein Fehler.

Mit dem Rücken zur Zimmertür sitzt Ottilie in ihrem Midcentury-Sessel am weit geöffneten Fenster, die Füße in blau melierten Ringelsocken auf der Heizkörperabdeckung, den Hals aufrecht über die flaschengrüne Sessellehne gestreckt wie über eine Wasseroberfläche, über der es die Frisur trocken zu halten gilt. Als Zeichen, dass sie Lous Eintritt zur Kenntnis genommen hat, wackelt sie in den Wollsocken mit den Zehen. Ottilie hat beschlossen, sich nicht bei lebendigem Leib austrocknen zu lassen. Sich von keiner Heimleitung, von keiner zentral gesteuerten Heizungsanlage abhängig zu machen. Eine wie Ottilie lässt sich weder austrocknen noch verdunsten. »Nicht auszuhalten«, hat sie bei ihrem Einzug befunden, als ihr klargeworden ist, dass hier ganzjährig geheizt wird. Die Anstaltsleitung hat auf ihre wiederholten Beschwerden mitgeteilt, dass die Anlage zentral gesteuert sei und man die Einstellungen bedauerlicherweise nicht eigenmächtig verändern könne. Eine Pflegeheimen und Seniorenresidenzen eigene Maßnahme, so hat Ottilie misstrauisch unterstellt, um die eigenen Bewohnerinnen auszutrocknen, den Altfrauenschweiß, die Inkontinenz, die künstlichen Darmausgänge und die Tränen. Bei Ottilie ist nichts auszutrocknen, Ottilie hat sich im Griff, und selbst wenn ihr Körper ihr immer häufiger klarzumachen versucht, dass sein Mindesthaltbarkeitsdatum abgelaufen ist, Ottilie würde es nie einfach laufen lassen. Ottilie riecht nach Lavendel, hat die Haare immer schön und die Bluse nie falsch geknöpft. Während Lou irgendwann dazu übergegangen ist, Ottilie nur noch im T-Shirt zu besuchen, hat Safeta, Ottilies bosnische Pflegerin, kurzerhand ihren Schwager angeschleppt, der sich mit Heizungen und Sensorsystemen auskennt. Seitdem liegt die Temperatur im Zimmer Nr. 113 des Pflegeheims Andersen Nexö verlässlich zwischen 17 und 20 Grad, wenn das Fenster geschlossen ist. Oder, wenn es wie jetzt weit geöffnet ist und der Geruch der auf dem Boden vor dem Gebäude verrottenden Blätter nach oben dringt, bei sieben Grad Celsius. Die Mütze warkein Fehler.

»Es geht alles vorüber, es geht alles vorbei, auf jeden Dezember folgt wieder ein Mai …« Leise knackend dreht sich die Schallplatte auf dem Plattenspieler. Der Plattenspieler war Ottilies erster Staatsakt, gleich in der Woche nach ihrem Einzug hat sie den Hausmeister beauftragt, den vom Heim gestellten Fernseher abzuholen,