»Mary!« Sie streckte die Arme nach der Schwester aus, aber diese wich ein wenig zurück. Ihr schönes Gesicht war blass und maskenhaft starr. Kein Leben drückte sich in den ebenmäßigen Zügen aus. Fast wirkte Mary Harvey wie eine Steinfigur. Einzig in den Augen brannte ein unheimliches Feuer, das Susan noch niemals zuvor gesehen hatte und das ihr Angst machte. In diesem Moment wurde eine der Türen zum Ballsaal aufgerissen und gleich darauf zugeschlagen. Es war ein Nebeneingang, durch den nun ein Mann erschien. Mary erschrak fürchterlich, als sie ihn sah. Sie wich zurück. Der Mann eilte entschlossen durch den Ballsaal. Seine eisenbeschlagenen Stiefel knallten bei jedem Schritt auf dem Parkett. Mary rannte in Panik davon, aber sie konnte dem Mann nicht entkommen. Susan hörte den verzweifelten Schrei der Schwester …
Bleigrau hing der Himmel über der winterlichen Landschaft. Tiefe Wolken ballten sich zusammen, aus denen feiner Schnee rieselte, der eher an Eiskristalle erinnerte und den weitläufigen Landschaftspark mit einer dünnen, weißen Schicht überzog. Bald wirkte das Land nahe dem Dover-Kanal wie mit Puderzucker bestreut. Überall schimmerten die Boten des Winters; auf den knorrigen Ästen der alten Bäume, auf dem gepflegten Rasen und den Rabatten, die im Sommer mit verschwenderischer Farbenpracht beeindruckten, nun aber kahl und abgeräumt waren. Einzig die Steinfiguren vor den Backsteinmauern, die im hinteren Teil des Parks nahe dem Herrenhaus die Rabatten begrenzten, unterbrachen noch das eintönige Grau und Weiß.
Da fanden sich in Stein gehauene Darstellungen der vier Jahreszeiten, Waldtiere wie Rehe oder ein Fuchs und auch mystische Figuren, ein Pan mit Flöte, ein Neptun in einem steinernen Becken, in dem während der warmen Jahreszeit weiße Seerosen blühten. Sie alle wirkten seltsam starr und aufgereiht ohne die Blütenpracht des Sommers.
Susan schaute sich fragend um. Wie kam sie hierher? Sie kannte diesen Park nicht, das nahe Herrenhaus war ihr ebenfalls fremd. Die Umgebung hatte nichts Vertrautes für sie. Die junge Londoner Krankenschwester war überzeugt, noch niemals zuvor hier gewesen zu sein. Zumal sie sicher sein konnte, dass der Frühling längst begonnen hatte. Der Winter war vorbei, am Morgen hatte Susan zum ersten Mal einen leichten Mantel auf dem Weg zur Arbeit tragen können. Und nun stand sie hier, mitten im Winter, in einer Umgebung, die sie nicht kannte. Was hatte das zu bedeuten?
Ein Schauer rann über ihren Rücken, sie fröstelte. Und als sie an sich herunter schaute, wurde ihr auch klar, warum. Sie trug nämlich nur ein Nachthemd! Da begriff Susan, was hier vor sich ging. Sie träumte! Diese Erkenntnis brachte eine gewisse Erleichterung, die allerdings nicht lange vorhalten sollte.
Die Umgebung war Susan nämlich nicht nur fremd, sie war zudem unheimlich. Ein Gefühl des Unbehagens, der Angst schlich sich in ihr Herz und ließ es furchtsam gegen die Rippen klopfen.
Was dieser Traum ihr zeigte, war keine friedliche Landschaft, kein Winteridyll. Es war eine erstarrte Natur unter dem düsteren Dämmerlicht einer steigenden Dunkelheit. Düster und bedrohlich wirkte diese auf die junge Frau, auch wenn sie nicht genau sagen konnte, woher ihre Regungen kamen. Doch sie waren da und sie verstärkten sich mit jeder Sekunde, die verging. Mit jedem Herzschlag, der gleichsam die Furcht in blanke Angst und Panik verwandelte und die Schlafende aufstöhnen ließ.
Susan wollte aufwachen, dieser dunklen Vision entfliehen, die ihr Herz wie mit einer eisigen Faust umklammerte und ihr die Luft zum Atmen nahm. Gewaltsam versuchte sie, die Augen zu öffnen, doch es ging nicht. Sie schien gefangen in diesem Albtraum, dazu verurteilt, ihn zu ertragen, zu durchleiden.
Unvermittelt kam Bewegung in die erstarrte Umgebung. Ein Kind lief durch den winterlichen Park. Es war ein kleines Mädchen mit blonden Locken, das Susan bekannt vorkam. Doch es kam nicht nah genug heran, damit sie sein Gesicht erkennen konnte. Das Kind war höchstens sechs oder sieben Jahre alt. Es trug einen blauen Mantel aus winterlichem Tweed und eine passende Mütze. Fröhliches Lachen drang an Susans Ohr, verscheuchte für einen Moment die düsteren Empfindungen, die ihr Herz erfüllten.
Das Kind steuerte einen kleinen See an, der sich in Susans Nähe befand. Eine alte Trauerweide neigte ihre kahlen Äste graziös über das Wasser, das nun gefroren war. Das Mädchen ließ sich auf einer Steinbank am Ufer nieder und begann, seine Stiefel aufzuschnüren. Susan begriff nicht gleich, was dies zu bedeuten hatte. Doch sie sagte sich, dass sie träumte. Und im Traum galten die Gesetze der Logik wohl nicht unbedingt.
Es dauerte allerdings nicht lange, dann wurde der Träumenden klar, was hier vor sich ging. Das Kind zog Schlittschuhe an, es wollte offenbar auf dem gefrorenen See eine Runde drehen.
Susan sah zu, wie die Kleine aufstand und sich dem Ufer näherte. Und sie sah noch etwas. Obwohl die Wasserfläche gefroren aussah, war das Eis an den Rändern aufgetaut. Darunter schwappte es träge. Das Kind schien dies nicht zu bemerken. Unbekümmert glitt es auf die Eisfläche. Susan wollte die Kleine warnen. Sie öffnete den Mund, doch kein Laut kam heraus. Und dann hörte sie die Stimme, die nur in ihrem Kopf zu sein schien.
»Du kannst ihr nicht helfen, nicht so. Was du siehst, ist längst geschehen. Schau genau hin und vergiss es nicht …«
»Wer bist du?«, fragte sie, ohne eine Antwort zu erhalten.
Im nächsten Moment hörte die junge Frau ein hässliches Knacken, dessen Ursprung der kleine See war. Susan ahnte, was geschehen würde. Ihr Herz krampfte sich schmerzhaft zusammen, Hilflosigkeit erfüllte sie. Es war grausam, nicht eingreifen, nicht helfen zu können. Doch sie blieb ein Zaungast, der diese Tragödie nur sehen durfte, ohne etwas beeinflussen zu können.
Das kleine Mädchen hatte noch nicht begriffen, in welcher Gefa