Die Bewohner von Sophienlust saßen im Speisesaal beim Abendessen. Vor allem die Kinder legten einen erstaunlichen Appetit an den Tag. Sie waren am Nachmittag mehrere Stunden lang an der frischen Luft gewesen und nun entsprechend hungrig. Außerdem hatte die Köchin Magda ihre Kochkünste wieder einmal unter Beweis gestellt. Als Hauptgericht gab es gefüllte Kalbsbrust mit Gemüsereis und verschiedenen Salaten.
»Ach, Pünktchen, reichst du mir bitte die Schüssel mit dem Kartoffelsalat herüber?«, bat Irmela Groote, ein großes schlankes Mädchen, zurzeit eines der ältesten Kinder von Sophienlust.
»Tut mir leid. Die Schüssel ist leer«, erwiderte Pünktchen, die diesen Spitznamen den lustigen Sommersprossen verdankte, die auf ihrem Stupsnäschen tanzten. Mit vollem Namen hieß sie Angelina Dommin, aber kaum jemand redete sie so an. »Möchtest du von dem Gurkensalat, Irmela?«
»Nein, danke. Eigentlich habe ich ohnehin schon genug gegessen. Bloß vom Kartoffelsalat hätte ich gern noch eine zweite Portion gehabt. Er schmeckt einfach köstlich.«
»Möchtest du meinen Salat?«, fragte da die Huber-Mutter. »Ich habe noch nichts davon gegessen, er ist noch unberührt«, fügte sie hinzu und schob ihren Salatteller zu Irmela hinüber.
»Aber Huber-Mutter, isst du ihn denn nicht selbst? Schmeckt dir heute das Essen nicht? Du hast ja auch noch das ganze Fleisch auf deinem Teller liegen. Dabei magst du gefüllte Kalbsbrust doch so gerne. Ist dir nicht gut? Bist du krank?«, erkundigte sich Irmela besorgt.
»Ich bin völlig gesund. Macht euch um mich keine Sorgen«, wehrte die Greisin ab. Doch mittlerweile war auch Regine Nielsen, die Kinderschwester, aufmerksam geworden.
»Huber-Mutter, mit dir stimmt etwas nicht«, stellte sie mit gespielter Strenge, die ihre Besorgnis überdecken sollte, fest. Immerhin war die Huber-Mutter eine betagte Frau – in ihrem Alter mussten auch kleinere Unpässlichkeiten ernst genommen werden. »Ich fürchte, du hast dir heute mit deiner Fahrt nach Maibach zu viel zugemutet«, fuhr sie fort. »Ich hätte dich doch lieber mit dem Wagen hinbringen sollen.«
»Aber nein«, beteuerte die Greisin. Das Aufhebens, das man um sie machte, war ihr höchst unangenehm. Sie war dankbar, dass sie ihren Lebensabend in Sophienlust verbringen durfte, aber sie wollte niemandem zur Last fallen.
»Oder du hättest uns deinen Kräutersaft einfach morgen mitgeben können«, sagte Pünktchen. »Wir hätten ihn dann nach der Schule zu Herrn Direktor Stockinger gebracht. Bis morgen hätte er schon noch darauf warten können.«
»Er hätte ihn sich auch selber holen können«, warf Fabian ein.
»Sehr richtig«, pflichtete Angelika Langenbach dem Jungen bei. »Aber anstatt sich selbst herzubemühen, bestellt er unsere arme alte Huber-Mutter in die Stadt!«
»Aber, Kinder, ihr seht das ganz falsch«, sagte die Greisin. »Der Ausflug nach Maibach hat mir Spaß gemacht – zuerst wenigstens. Ich freute mich über die Abwechslung. Und warum sollte ich dem Direktor Stockinger seinen Saft nicht in sein Büro liefern? Er ist ein viel beschäftigter Mann, während ich eine Menge Zeit habe. Zum Glück bin ich noch rüstig und somit nicht zur Untätigkeit verurteilt.«
Die Kinder nickten zustimmend. Sie wussten, dass die Huber-Mutter in der warmen Jahreszeit allerlei Kräuter sammelte, sie teilweise gleich zu Säften verarbeitete, teilweise sorgfältig trocknete und für späteren Gebrauch aufhob. Ihr Kundenkreis war vielfältig. Nicht nur in Wildmoos, auch in der nahegelegenen Kreisstadt Maibach gab es Leute, die auf die Heilkraft der von ihr gesammelten Kräuter schworen.
»Aber warum bist du heute so niedergeschlagen, Huber-Mutter?«, fragte Pünktchen und kam somit wieder auf den Ausgangspunkt des Gespräches zurück. »War der Direktor Stockinger mit dem Saft, den du ihm gebracht hast, nicht zufrieden?«
»O doch, er versicherte mir, dass er äußerst zufrieden ist, und dass ihm nur mein Hustensaft gegen seinen lästigen Reizhusten hilft. Allerdings fürchte ich, dass auch mein Absud aus Primelwurzeln und verschiedenen anderen Pflanzen auf die Dauer bei Herrn Direktor Stockinger wirkungslos bleiben wird«, erwiderte die alte Frau düster.
»Ah, sagt dir das deine seherische Gabe?«, fragte Fabian interessiert. Die Tatsache, dass die Huber-Mutter schon öfter Ereignisse vorausgesehen hatte, die dann wirklich eingetroffen waren, erfüllte die Kinder einerseits mit einer gewissen Scheu, andererseits jedoch mit einer stets wachen Neugier.
»Nein, dazu brauche ich keine seherische Gabe«, erwiderte die alte Frau auf Fabians Frag