1. KAPITEL
Bis zu dem Augenblick, als Noelle Stevenson das Wort „schwanger“ auf dem Teststreifen sah, hatte sie geglaubt, alles wird gut. Es war ihr erstes und einziges Mal gewesen, und da würde doch nicht gleich etwas passieren, oder?
Doch die Realität sah anders aus. Fassungslos drehte Noelle den Streifen hin und her. Ichbin schwanger.Ich.
Unvorstellbar. Was würden ihre Eltern dazu sagen? Natürlich brachten sie ihre Tochter nicht gleich um. Zuerst würden sie sich wortlos anblicken, auf eine Weise, die Noelle und ihre Schwestern schon immer aufgebracht hatte. Anschließend käme die Frage, was sie nun tun wolle. Immerhin habe sie sich selbst in diese Situation gebracht. Nun müsse sie sich den Konsequenzen stellen. Ja, sie wären sehr enttäuscht, und das war das Schlimmste.
Resigniert betrachtete Noelle ihr Spiegelbild. Sie hatte Angst vor der Zukunft. In zwei Wochen würde sie zwanzig sein, und im Herbst wollte sie mit dem zweiten College-Jahr beginnen. Das wäre unmöglich mit einem Baby.
Nein, es kann alles gar nicht wahr sein.
Schritte auf dem harten Holzfußboden ließen Noelle aufhorchen. Zu dieser Zeit, kurz nach sechs Uhr morgens, hielt sich normalerweise kein Mensch im Büro auf. Wer, außer ihr, erschien ausgerechnet heute so früh hier?
Noelle steckte den Teststreifen in die Schachtel zurück und versteckte diese hastig in ihrer Manteltasche. Hektisch sah sie sich in dem Bad ihres Arbeitgebers um. Als sie sicher war, nichts vergessen zu haben, eilte sie durch sein Büro auf den Flur.
Auf dem langen Flur begegnete sie ausgerechnet dem Menschen, dem sie gerade nicht über den Weg laufen wollte.
„Warum so eilig?“ Devlin Hunter wollte Noelle aufhalten und streckte die Hand aus.
Sie zwang sich zu einem Lächeln. Was sollte sie antworten? Keinesfalls die Wahrheit. Was er wohl für ein Gesicht machen würde, wenn sie heraussprudelte: „Oh, Mr. Hunter, ich musste heute so früh kommen, weil ich einen Moment allein in Ihrem Bad sein wollte. Zu Hause muss ich es nämlich mit meinen drei Schwestern teilen. Ich fürchte, ich bin von Ihrem verstorbenen Bruder schwanger, und möchte den Schwangerschaftstest lieber hier durchführen, wo ich ungestört von meiner Familie bin.“
Stattdessen sagte sie: „Jetzt bin ich gar nicht mehr in Eile. Ich hatte nur dringend etwas zu erledigen und wollte gleich danach voll in meine Arbeit einsteigen.“
Mr. Hunter warf einen Blick auf seine Armbanduhr. „Es ist erst kurz nach sechs.“
„Ich weiß.“
„Sollte Katherine eine so strenge Chefin sein?“ Ein feines Lächeln umspielte seinen Mund.
Noelle arbeitete nicht direkt für Mr. Hunter, sondern für seine Assistentin, war also Sekretärin der Assistentin. Sie bewunderte Katherine, die den Dienstplan immer so gestaltete, dass Noelle neben ihrer Arbeitszeit auch noch das College besuchen konnte.
„Nein, wirklich nicht. Ich wollte heute besonders fleißig sein.“ Noelle wusste selbst, dass sie eine schlechte Lügnerin war. Hoffentlich verrieten ihre Augen sie nicht.
Mr. Hunter war groß. Größer als Jimmy. Beide hatten dunkles Haar, wobei Mr. Hunters Augen grün und Jimmys braun waren. Das war nicht der einzige Unterschied. Jimmy war viel jünger gewesen und längst nicht so verantwortungsbewusst – jedenfalls nicht, bevor er zur Army gegangen war.
Aber jetzt wollte Noelle schnell vergessen, dass Jimmy nicht mehr lebte und sie schwanger war. Deshalb versuchte sie lächelnd an Mr. Hunter vorbeizuhuschen. Da sie sich nach links wandte und er einige Schritte nach rechts machte, während sie sich noch immer anlächelten, stießen sie zusammen.
Er entschuldigte sich, streifte aber aus Versehen mit seiner Aktentasche Noelles Manteltasche. Als daraus etwas auf den Boden fiel, bückte er sich und hob es auf.
Noelle blieb vor Schreck beinahe das Herz stehen. Am liebsten hätte sie sich in ein Mauseloch verkrochen.
Einen Moment schwiegen beide. Dann fragte Mr. Hunter ruhig: „Habe ich Sie vor oder nach dem Test gestört?“
„Danach.“
„Und?“
Noelle sah ihn an. „Ich bin schwanger.“
Dev hatte damit gerechnet, dass der schlimmste Teil dieses Tages eine Auseinandersetzung mit einem seiner Lieferanten sein würde. Aber da hatte er sich getäuscht. „Ich glaube, wir müssen uns wohl mal miteinander unterhalten“, sagte er und ging voraus in sein Büro.
Schwanger.
Insgeheim stöhnte Dev Hunter auf, als er die Schachtel mit dem Schwangerschaftstest auf seinen Schreibtisch stellte. Jimmy war noch so jung gewesen – Noelle sogar noch jünger …
Mit angstvoll aufgerissenen Augen saß Noelle