Einen Cappuccino, wie immer?
vonMarina Kryuchkova
Genau 12:00 Uhr, das bedeutet Mittagspause.
Wie an jedem anderen Arbeitstag begab er sich in das Café nebenan und bestellte einen Cappuccino.
«Wie immer, bitte», sagte er zu dem neuen, jungen Gesicht an der Theke.
«Wir haben seit heute ein neues Angebot, Cappuccino mit Karamellgeschmack. Vielleicht kann ich Sie ja auch dafür begeistern?»
«Nein danke, ich fürchte, es wird mir nicht schmecken.»
«Oh, Sie mögen also kein Karamell? Schade, ich bin von dieser neuen Version hin und weg. Karamell ist einfach der Hammer!» Sie stellte seinen Cappuccino auf die Theke und wünschte ihm einen schönen Tag. Etwas abwesend blickte er auf sein heißes Milchgetränk, als er das Wechselgeld in seine braune Lederbrieftasche steckte.
Seine blauen Augen wanderten nun durch die Ecken des Cafés, auf der Suche nach einem freien Platz. Da er so groß geraten war, fiel es ihm oftmals leicht, einen guten Überblick zu behalten. Das Café ist ja toll, aber die Mittagszeit ist einfach nicht die beste Zeit, um es zu besuchen. Es ist doch ständig so voll hier, dachte er.
Plötzlich entdeckte er doch noch einen freien, kleinen Tisch, direkt am großen Fenster. Am Tisch angekommen, bequemte er sich auf einen der zwei Holzhocker und wurde wieder nachdenklich. Eigentlich mag ich Karamell. Aber im Cappuccino? Wenn ich ihn mir gekauft hätte, allein um festzustellen, dass er mir tatsächlich nicht schmeckte, dann hätte ich mich ganz schön geärgert. Nicht nur über das vergeudete Geld, sondern auch über die vergeudete Zeit. Schließlich hätte ich mich ja noch einmal bei der langen Schlange anstellen müssen, nur um meinen normalen Cappuccino zu bekommen. Ich wäre verärgert zur Arbeit zurückgekehrt, unzufrieden darüber, dass ich meine Mittagspause nicht richtig genossen hätte. Das hätte wahrscheinlich zur Folge, dass meine Leistungen darunter litten. Also war es doch gut, dass ich mich nicht dafür entschieden habe, es zu probieren, beschloss er, als ihn eine helle Stimme aus seinem Gedankenmonolog riss.
«Entschuldigen Sie, der Herr, ist hier noch frei?»
Er drehte leicht seinen Kopf, um über die Schulter schauen zu können, und erkannte die junge Frau von der Theke, die ihn mit breitem Grinsen ansah.
«Äh, ja. Sieht so aus», erwiderte er widerwillig, deutete mit der Hand auf den freien Platz und zuckte mit den Schultern.
Sie stellte ihr Brötchen und ihren Becher am Tisch ab, setzte sich zu ihm und rückte dabei lärmend mit ihrem Hocker näher an den Tisch.
«Danke! Jetzt gönne ich mir endlich auch mal meine Mittagspause.» Er presste seine Lippen zusammen und bemühte sich, betroffen zu nicken. Dabei schaute er auf seine Digitaluhr. Es war 12:18 Uhr. Verdutzt zog er die Augenbrauen zusammen. Es ist schon eine krumme Uhrzeit, um Mittagspause zu machen.
«Ich hab von meinem Team gehört, dass Sie oft hierherkommen und sich einen Cappuccino bestellen. Was ist an diesem Café denn besonders cool? So einen Cappuccino bekommt man ja in einer Großstadt wie dieser überall?», erkundigte sich die junge Dame bei ihm. Somit war die Hoffnung auf eine ungestörte Mittagspause dahin, gereizt ließ er sich nun aus Höflichkeit in eine Konversation verwickeln und musste seine Terminplanungen, denen er sich normalerweise hingebungsvoll in der Mittagspause widmete, auf später verlegen.
«Ja, das ist schon richtig. Ich komme immer in meinen Mittagspausen hierher.
Mir ist auch schon aufgefallen, dass Sie eine Neue sind, weil ich Ihr Gesicht hier noch nicht so oft gesehen habe.»
«Ja genau. Gut aufgepasst! Bin erst seit einigen Wochen hier. Erkunde die Gegend. Neue Orte, Menschen, Möglichkeiten. Wenn es mir hier gefällt, dann bleib ich einfach länger, und wenn nicht, zieh ich einfach spontan dahin, wo es mich als Nächstes hintreibt.»
«Ich weiß ja nicht, was Sie in Ihren jungen Jahren schon für berufliche Erfahrungen gemacht haben, aber als Projektmanager lege ich großen Wert auf Struktur und Verbindlichkeit. Zum Beispiel stehe ich gegen 6 Uhr auf und nutze die morgendliche Ruhe, um wach zu werden, mich für die Arbeit fertig zu machen