1. KAPITEL
November 1807
Sarah Ellison ließ den Blick über den Ozean schweifen, der sich schier endlos vor ihr zu erstrecken schien. Die Sonne stand tief am klaren Winterhimmel, und das Wasser schlug rhythmisch gegen den Bug des langsam in der Dünung rollenden Schiffs. Allmählich beruhigte sich Sarahs Magen. Sie atmete die kalte, klare Meeresluft ein, schmeckte das Salz auf ihren Lippen und war froh, dass sie die enge, dunkle Kajüte unter Deck verlassen hatte.
Ein beißender Wind ließ ihre Hutbänder flattern. In der Ferne wirkte das Wasser hellblau und so glatt wie die Seide ihrer Lieblingsrobe, doch näher beim Schiff veränderte sich die Farbe zu einem trüben Grau, und nur die Wellenkämme kräuselten sich weiß. Sarah dachte an die Reise, die vor ihr lag und die sie nach England zurückbringen würde. Sie wusste, dass der November nicht die beste Zeit für eine Überquerung des Atlantiks war, aber sie hatte allen Grund gehabt, New York noch vor Weihnachten zu verlassen.
Wieder schaute sie in die Ferne. Die ungeheure Weite des Meeres übte eine beruhigende Wirkung auf sie aus. Die Wasseroberfläche war glatt wie ein Spiegel, bis auf einen kleinen dunklen Umriss, der darauf trieb. Sarah sah aufmerksamer hin und versuchte zu erkennen, was es sein mochte. Ein Wal? Ein Delfin? Oder, wahrscheinlicher, ein Meeresvogel? Nein. Es war nichts dergleichen. Sarahs Herz begann zu rasen. Aufkeuchend wirbelte sie herum und rief schon um Hilfe, ehe sie noch loslief.
„Mr Seymour! Da treibt ein Mann im Wasser! Dort drüben, etwas weiter entfernt!“
James Seymour, der Erste Offizier, blickte in die Richtung, in die sie deutete, nahm gelassen die Pfeife aus dem Mundwinkel und betrachtete Sarah mit bemühter Geduld. „Mrs Ellison. DieAngel hat neben ihrer Fracht schon viele Passagiere über den Nordatlantik befördert. Sie wären überrascht, wie viele von ihnen wähnten, sie hätten Menschen – und nicht nur Menschen – im Meer entdeckt. Seien Sie versichert, Ma’am, dort draußen gibt es nichts als Fische.“
Sarahs Blick schweifte zurück zu der Stelle, wo sie die Gestalt gesehen hatte. Jetzt war dort nichts als Wasser.
„Lediglich ein Spiel des Lichts, Ma’am.“ Mr Seymour wandte sich ab.
Angestrengt starrte Sarah auf die leeren Wellen. Und dann sah sie ihn deutlich in der Ferne. Es konnte kein Irrtum sein. „Nein!“, rief sie aus. „Sehen Sie doch!“
Mr Seymour spähte in die Richtung, in die sie wies, und mit einem erstickten Laut lief er los und brüllte nach dem Kapitän.
Inzwischen heftete Sarah den Blick unverwandt auf den Mann. Jedes Mal, wenn er unter der Wasseroberfläche verschwand, stockte ihr der Atem, und sie holte erst dann wieder Luft, wenn er erneut auftauchte – einen Arm in die Luft gestreckt, als wolle er ihr zuwinken.
Unwillkürlich streckte auch Sarah den Arm nach ihm aus, als könnten ihre Hände sich berühren, als könne sie ganz allein ihn retten.
„Halte durch“, flüsterte sie in dem Wissen, dass er sie nicht hören konnte; nicht einmal, wenn sie aus vollem Hals geschrien hätte. Die Entfernung war zu groß, der Wind zu stark.
Im Hintergrund vernahm sie laute Stimmen und die eiligen Schritte der Mannschaft. Holz knarzte, Seile glitten durch Ösen, Segel blähten sich und knallten im Wind. DieAngel änderte ihren Kurs und begann zu kreuzen, um den Fremden zu erreichen.
„Halte durch. Nur noch ein wenig“, stieß Sarah eindringlich wie im Gebet hervor. „Wir kommen.“
Der Segelschoner trotzte dem Wind, näherte sich dem Schiffbrüchigen. Je kleiner der Abstand wurde, desto deutlicher konnte Sarah ihn sehen. Dunkles, klatschnasses Haar, blasses Gesicht, ein weißes Hemd, das an ihm klebte und sich dann wieder im Wasser bauschte. Er versuchte zu schwimmen, aber er hatte keine Kraft mehr, und die Strömung war zu stark.
„Verschone ihn, lieber Gott …“, bet