1. Kapitel
Im Hochschwarzwald, 3. Januar 1912
»Bitte ein Stück nach links, wir wollen doch den Skilift auch aufs Bild bekommen. Sehr gut, bitte nicht mehr bewegen!« Die Stirn in konzentrierte Falten gelegt, verschwand Mimi Reventlow unter dem Schwarztuch ihrer Kamera. »Und jetzt bitte lächeln, die Herren!«
Es war ein herrlicher Wintertag. Die Luft war glasklar, die verschneiten Berghöhen des Hochschwarzwalds glitzerten im Sonnenlicht, und die Holzschindeln des malerisch auf einer Hochebene gelegenen Hotels Tonihof glänzten wie der Tannenhonig, den es bei jedem Frühstück gab. Die Gruppe Skifahrer – Frankfurter Geschäftsleute mittleren Alters –, die Mimi vor der Linse hatte, war nach etlichen rasanten Talabfahrten und zwei Runden Obstler bestens aufgelegt. Statt nur zu lächeln, wie Mimi sie gebeten hatte, machten sie Faxen wie Lausbuben!
Wenn es nur immer so leicht wäre, die Leute aus der Reserve zu locken, dachte die Fotografin und genoss den Moment. Schon war das »Klick« ihrer Kamera zu hören. Anschließend verstaute sie die Glasplatte in der dazugehörigen Hülle, dann tauchte sie unter dem Schwarztuch auf und sagte freundlich: »Vielen Dank, meine Herren! Ich gebe die Glasplatten heute noch dem örtlichen Fotografen zum Entwickeln, so dass Sie Ihre Fotografien in drei Tagen an der Hotelrezeption abholen und dort auch bezahlen können – so habe ich es mit Hotelchef Herrn Wimmer abgesprochen. Verraten Sie mir bitte noch, wie viele Abzüge ich für Sie machen soll?«
Jeder der Herren wollte gleich zwei. »Dürfen wir Sie auf einen Kaffee einladen, gnädige Frau?«, fragte einer der Skifahrer dann forsch.
»Oder gar auf ein Glas Sekt?«, fügte ein zweiter hinzu. »Es kommt selten vor, dass man eine Wanderfotografin trifft. Vielleicht würden Sie uns die Ehre erweisen, ein wenig aus Ihrem Leben zu erzählen?«
»Heute ist mein letzter Tag hier, ich muss schauen, dass ich mit meiner Arbeit fertig werde«, sagte Mimi mit gespieltem Bedauern. Wenn sie jeder Einladung folgen würde, die sie im Laufe eines Tages bekam, verbrächte sie die Zeit nur noch mit Essen und Trinken!
*
Wie Mimi Reventlow in ihrem Element war!, dachte Anton Schaufler lächelnd, der die Szene durch eins der vielen Restaurantfenster beobachtet hatte. Und wie sich die Leute um sie scharten, und das vom ersten Tag an! Kein Wunder – mit ihren kastanienbraunen Haaren, ihren vor Lebensfreude funkelnden Augen und dem klaren Teint war die stets elegant gekleidete Wanderfotografin äußerst attraktiv. Und als hätte das nicht gereicht, verfügte Mimi zudem über eine Ausstrahlung, die die Menschen unwillkürlich in ihren Bann zog, dachte Anton bewundernd.
Seit Anfang Dezember waren sie nun schon auf Einladung des Hotelwirts in diesem Hotel. Die Fotografin wohnte luxuriös in einem großen Gästezimmer mit Blick ins Tal, er selbst teilte sich ein Hinterzimmer mit einem der Köche, einem netten Kerl, mit dem er gut auskam. Zufrieden mit sich und seiner neuen Welt deckte Anton weiter die Tische fürs Abendessen ein – die Gabeln auf die linke Seite, die Messer und Löffel nach rechts. Wenn seine Mutter sehen würde, wie versiert er für jeden Gang das jeweilige Besteck platzierte, würde sie Augen machen, dachte er. Doch so schnell der Gedanke gekommen war, so schnell war er auch wieder verschwunden. Er weinte seinem Heimatort Laichingen und der Arbeit im elterlichen Gasthof keine Träne nach!
Als Mimi Reventlow Laichingen Ende November plötzlich verlassen hatte, hatte er sich ihr angeschlossen. Da er kein eigenes Zi