DER LAMA MACHT SICH AUF DEN WEG
In Meditation versunken saß der Lama vor der kleinen Buddhastatue. Schon einige Stunden saß er so, nahezu bewegungslos. Sein Geist war leicht und klar, keine Sorge, kein Begehren, keine unruhigen Gedanken drückten seine Seele, die wie ein Spiegel des Universums nichts in sich aufnahm, nur widerspiegelte, ohne davon berührt zu werden. Er saß in seiner kleinen Kammer im großen Kloster in Lhasa. In diesem Raum verbrachte er schon viele Jahre einen großen Teil seiner Zeit, meditierend, Sutras rezitierend, die Gebete verrichtend. Jeder einzelne Gegenstand im Raum war heilig. Es war ohnehin wenig: neben der Buddhastatue nur ein paar Schriftrollen, ein Thangka, eine Kerze.
Ein junger Mönch trat lautlos ein und verneigte sich. Obwohl der Lama mit dem Rücken zum Eingang gewandt war und der junge Mönch ehrfurchtsvoll schweigend verharrte, war er sich der Gegenwart des anderen sofort bewusst und wusste auch, welcher seiner Schüler es war. Was anderen als übernatürliche Fähigkeit eines Heiligen erscheinen musste, war für ihn nur das vollkommen wache Bewusstsein, das einen Lama auszeichnete.
»Was gibt es, Chagdud?« Seine Stimme klang voll und sanft und ließ sein Alter nicht erahnen. Der junge Mönch Chagdud trat vor den Lama, kniete sich nieder und berührte mit der Stirn den Boden.
»Ehrwürdiger Rinpoche, der Kaufmann Dorjee Wangchuk …«
Der Lama nickte. »Es ist so weit. Er wird nun bald übertreten und muss wohl wiedergeboren werden. Ich werde mich gleich auf den Weg machen. Es ist alles vorbereitet. Bitte bring mir meine Reisetasche.«
Chagdud verneigte sich erneut vor seinem Lehrer. Er zögerte kurz.
»Chagdud, du möchtest noch etwas sagen.« Der Lama fragte nicht, er stellte es nur fest.
»Ehrwürdiger, darf ich Euch begleiten?«
Der Lama lächelte still. »Diesmal nicht, mein Lieber. Diese kleine Reise werde ich allein unternehmen.«
Der junge Mönch verneigte sich und wandte sich zum Gehen. Der Lama Sonam Tsering erhob sich. Trotz seines hohen Alters und des langen Sitzens bedurfte er dazu keiner Hilfe. Allein wollte er sich nun auf den Weg machen, um einem Kaufmann, einem Sünder, einem, der über die Lehren Buddhas oft gespottet hatte, einem, der sich an wertvollen religiösen Kunstschätzen bereichert hatte, einem Ehebrecher und einem, der vielleicht sogar einen Mord auf dem Gewissen hatte, beizustehen, wenn er von diesem Leben in den Bardo, den Zwischenzustand, eintreten und wohl nach neundundvierzig Tagen wiedergeboren würde. Seine Mönchsbrüder und seine Schüler waren darüber erstaunt, aber sie bewunderten das große Mitgefühl ihres Lama. Das allein war es jedoch nicht. Nur wenige wussten, dass der sterbende reiche Kaufmann der älteste Freund des Rinpoche war.
Es war ein kühler Herbsttag. Der Himmel war klar, und die heiligen Berge ragten in ihrer ewigen, gewaltigen Majestät in den Himmel. Trotz der Kälte trug der Lama nur sein einfaches Mönchsgewand. Er beherrschte die Fähigkeit, in seinem Körper eine solche Hitze zu erzeugen, dass sogar eiswassergetränkte Kleidung in kürzester Zeit trocknete. Unwillkürlich lächelte er, als er sich daran erinnerte, wie er vor vielen Jahren diese Fähigkeit erworben hatte. Wie stol