Ein Ausflug in die Geschichte der Sensibilität
Lange Zeit meines Lebens war ich der Meinung, dass mein Dasein nur mir selbst gehörte. Es begann bei meiner Geburt und würde eines – hoffentlich noch fernen – Tages mit mir enden. Erst in meinem reiferen Erwachsenenalter begann ich zu verstehen, dass ich in einer langen Ahnenreihe stehe, obwohl ich fast nichts über meine Familie weiß. Ich begann mich für Geschichte zu interessieren, denn ich bin überzeugt davon, dass wir nicht verstehen können, wer wir sind, wenn wir nicht wissen, woher wir kommen. Damit meine ich nicht, dass wir unseren Stammbaum bis in die hundertste Generation aufsagen können, sondern ein Gefühl des Eingebundenseins in geschichtliche Zusammenhänge. In allen Epochen existierten nämlich Menschen, von denen Sie abstammen, sonst wären Sie heute nicht hier.
Jeder von uns hat eine sehr lange Ahnenreihe – auch wenn wir nicht viel von unseren Vorfahren wissen. Und interessanterweise lassen sich auch Charaktereigenschaften oder Wesenszüge zurückverfolgen. Ich denke, dass die Geschichte der eigenen Empfindsamkeit sich bereichern lässt durch das Wissen darum, wie zu anderen Zeiten und in früheren Epochen über Empfindsamkeit und Sensibilität gedacht wurde.
Ich lade Sie also ein, einen kleinen Ausflug in die Geschichte mit mir zu unternehmen, schließlich habe ich Ihnen eine Reise versprochen – auf geht’s.
Sensibilität, Pflanzen, Tiere und mechanische Reizbarkeit
Als ich mich auf die Spurensuche nach der Sensibilität begab, bin ich reich beschenkt worden durch Menschen, die vor über zweitausend Jahren gelebt haben. Es ist ein tröstlicher Gedanke, in den überlieferten Schriften der griechischen und römischen Philosophen Hinweise darauf zu finden, wie man mit Empfindsamkeit umgehen soll, sodass sie einem nützt und nicht etwa im Wege steht. Die Weisheit in diesen Schriften, durch viel Lebenserfahrung und Nachdenken erworben, berührt mich tief. Marc Aurel zum Beispiel, römischer Kaiser und auch »kaiserlicher Philosoph« genannt, entwarf in seinen Selbstbetrachtungen folgendes Bild: Er verglich den Menschen mit einer Klippe, an der sich die Brandung bricht. Er ermutigte dazu, unerschüttert durchzuhalten, sich weder vom gegenwärtigen Unglück zerbrechen zu lassen noch Zukünftiges zu fürchten. Eine solche Situation sei kein Unglück, sondern eine Chance, Haltung zu zeigen, und damit ein Glücksfall.2
Klingt das nicht wie ein ermutigender Zuruf aus der Vergangenheit? Und ist dies nicht etwas, das vielen sensiblen Menschen heutzutage eine Richtung vorgeben kann, in die sie ihre Gedanken lenken können? Wir können davon ausgehen, dass ein römischer Kaiser zu Zeiten Marc Aurels schon aufgrund seiner Position viele Feinde hatte. Und trotz Lebensbedrohung und seines sicher schwierigen Jobs war er in der Lage, das Gute im Schlechten zu sehen, eine Haltung, die man durchaus üben kann. Marc Aurel gehörte zur Schule der Stoiker, die Denken und Handeln, nicht Schreiben und Reden, in den Vordergrund stellte.3 Es ist ein praktisch orientierter Ansatz, der heutigen Hochsensiblen einen Leitfaden bieten kann.
Ich finde es sehr interessant, dass im Altertum sehr viel über die Unterschiede zwischen den Menschen und über verschiedene Charaktere nach