: Christiane Florin
: Trotzdem! Wie ich versuche, katholisch zu bleiben
: Kösel
: 9783641255169
: 1
: CHF 17.60
:
: Christliche Religionen
: German
: 176
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Warum zum Teufel bin ich so geduldig mit dieser Kirche?
Die Kirche besteht nicht nur aus Machtmissbrauch, sexueller Gewalt und Frauenverachtung, es gibt darin so viele Menschen, die Gutes tun. Bei diesem Satz ist die Geduld von Christiane Florin schnell am Ende. Ja, es gibt diese Menschen, die Gutes tun. Aber auch sie haben viel zu lange zu Machtmissbrauch, sexualisierter Gewalt und Frauenverachtung geschwiegen. Vielleicht, weil sie sich ihre Heimatidylle nicht kaputt machen lassen wollten. Denn Katholizität ist nicht nur ein Glaube, es ist auch ein Heimatgefühl. Betroffene sexueller Gewalt, Opfer lehramtlicher Strafaktionen und Analytiker des Machtapparats stören im Gefühlsablauf.

Aber: Damit machen sich die Gutgläubigen zu Komplizen. Zu Komplizen, die sich nicht gegen ein autoritäres System wehren, das Gläubige kleinhält. 'Trotzdem! Warum ich versuche, katholisch zu bleiben' ist Anklage, Selbstanklage und Bekenntnis einer Sehnsucht.

Christiane Florin, geboren 1968 ist deutsche Politikwissenschaftlerin und Journalistin.

Sie war von 1993 bis 1996 für die Pressestelle der Vertretung der Europäischen Kommission tätig. Von 1996 an arbeitete sie für die christlich ausgerichtete Wochenzeitung Rheinischer Merkur. Von 2007 bis 2010 leitete sie das Feuilleton des Rheinischen Merkur. Von Dezember 2010 bis 2015 war sie Redaktionsleiterin der Beilage 'Christ und Welt' in Teilen der Wochenzeitung 'Die Zeit'. Seit Januar 2016 war sie Redakteurin beim Deutschlandfunk für den Bereich 'Religion und Gesellschaft' und wechselte im November 2023 in die DLF-Kulturredaktion.

Darüber hinaus ist sie als freie Autorin und Bloggerin tätig. Sie verfasste mehrere Bücher und Beiträge, die u.a. bei Rowohlt ('Warum unsere Studenten so angepasst sind') und beim Herder-Verlag (mit Eberhard Schockenhoff 'Gewissen. Eine Gebrauchsanweisung'). Sie war zuletzt wiederholt Gast zu kirchlichen und christlich-religiösen Themen u.a. beim Presseclub des WDR.

Ihre Kommentare bei Christ& Welt wurden 2014 durch die Fachzeitschrift Medium Magazin gewürdigt. 2023 erhielt Christiane Florin den Walter-Dirks-Preis, der sie für ihre Hintergrundrecherchen im Missbrauchsskandal der Kirchen auszeichnete.

Ich bin ein Schaf, holt mich hier raus

Dieses Buch besichtigt eine Sonderwelt. Dort tragen Männer Kleider, mit Gold und Spitze. Es riecht nach Weihrauch und nach Schaf. Der Weihrauch duftet zur Ehre Gottes. Was Gott ist, lässt sich an dieser Stelle nicht klären. Von Weitem betrachtet, bewegen sich die Schafe in einer Herde. Aus der Nähe besehen, bewegen sich einige schnell, einige langsam, einige gar nicht. Manche sind nur schemenhaft zu erkennen. Die Felle sind unterschiedlich dick. Männliche und weibliche Schafe laufen mit. Wer länger hinschaut, erkennt irgendwo vor, mitten in und hinter der Herde Männer in besonders goldig bestickten Kleidern. Sie tragen eine spitze Mütze. Diese Männer werden Hirten genannt. Manchmal haben sie einen Schäferhund dabei.

Es gibt mehr weibliche Schafe als männliche, aber die Hirten kennen die weiblichen nicht so gut. Mutterschafe haben sie am liebsten.

Diese Sonderwelt hat eigene Rituale, es gilt ein eigenes Recht. Strenger als ein Schaf riechen kann, dürfen Hirten handeln. Sie haben immer recht, denn sie machen die Gesetze, über die sie wachen.

Was sehr besonders ist: Auch Hirten waren einmal Schafe. Gott selbst hat ihnen gesagt, dass sie aus der Herde herausragen. Das nennt man Berufung. Nur männliche Schafe können diesen Ruf hören, bei weiblichen muss es Einbildung sein. Wenn ein hoher Hirte einem werdenden Hirten die Hand auflegt, nennt man das Weihe. Dieses Ritual zeigt den Schafen drumherum: Der ist keiner mehr von euch, der passt jetzt auf euch auf. Wenn die Weihe wirkt, kann der Hirte unterscheiden, was richtig und was falsch ist. Dabei hilft ihm der Heilige Geist. Dass der versagt, ist ausgeschlossen.

Hirten wissen durch die Weihe immer, was gut ist für die Herde. Manche Schafe denken trotzdem, sie wüssten es selbst besser und blöken. Das stört die Hirten. Manche nicken milde, manche lassen den Hund von der Leine. Das Blöken stört auch einige in der Herde. Dann beißt ein Schaf das andere und der Hund kann Pause machen.

Über allem und allen steht ein Mann in Weiß. Der wird nicht Höchster Hirte oder Oberstes Schaf genannt, sondern Heiliger Vater. Menschen von draußen bezeichnen ihn als Papst. Für die Schafe ist der Heilige Vater zugleich Stellvertreter Christi auf Erden. Christus hieß einmal Jesus, bevor er von den Toten auferstand. Jesus ist der Sohn Gottes und der Sohn einer Jungfrau namens Maria. Auch dabei hat der Heilige Geist geholfen. Diese Jungfrau war mit einem Zimmermann verheiratet. Josef, so sein Name, war – damals ungewöhnlich – bei der Geburt dabei und nahm Jesus wie ein eigenes Kind an. Als Jesus in einem Stall zur Welt kam, schauten Hirten und Schafe zu. Die Hirten trugen abgeschabte Kleider ohne Gold und Spitze.

Was Jesus beruflich machte, ist unbekannt. Er befasste sich viel mit Religion, diskutierte mit Schriftgelehrten und ging in den Tempel. Vielleicht arbeitete er als Zimmermann wie Josef. Als Hirte arbetete er nicht, Vater wurde er nicht, Mützen trug er nicht. Aber alle Hirten mit spitzen Mützen und alle Heiligen Väter berufen sich auf ihn.

Schafe, Hirten, Väter, Söhne, Jesus, Jungfrau, Josef, Stall, Tempel, Auferstehung, Christus, Gott – selbst im Erklärbär-Tonfall des Kinderfernsehens bleibt viel Unerklärliches und Unvereinbares. Die Bildausschnitte fügen sich nicht wie ein Puzzle ineinander. Hirten nennen das gern »das Unverfügbare«.

Man muss verrückt sein, um zu sagen: Diese Sonderwelt ist meine Welt.

Das Katholische ist komisch. Ich bin eine dieser komischen Figuren. Nicht Jungfrau, nicht Hirtin, nicht Heilige. Ich schreibe es ungern: Ich bin ein Schaf. Je nach Perspektive ein blökendes, bissiges, verlorenes, verirrtes, blödes, treudoofes. Wie auch immer – ich gehöre zur Herde. Noch.

Diese Sonderwelt ist meine Welt – das sagen längst nicht mehr so viele wie vor 50 Jahren. Aber laut jüngster Mitgliederstatistik sind es in Deutschland noch immer 23 Millionen. Die Marke »katholische Kirche« kennen 100 Prozent der Deutschen, sie ist damit so bekannt wie Coca-Cola. »Das erfrischt richtig«, warb der Getränkehersteller in den 1960er-Jahren, dem Jahrzehnt des Zweiten Vatikanischen Konzils. Auch das sollte erfrischen.

Gut 50 Jahre später ist das Image von »katholisch« mit dem Wort »abgestanden« fre