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30. Juni 1866
Ein deutscher König auf der Flucht
Endlich kommt König Georg V. von Hannover dazu, es sich auf dem Bett bequem zu machen und für seine Frau einige Zeilen zu diktieren, um sie über sein Schicksal zu unterrichten. Dass er unverletzt geblieben und nicht in Gefangenschaft geraten ist und dass er hier in diesem »wundervollen Jagdschloss« in Sicherheit ist. Es liegt auf einer Insel mitten in einem kleinen See nahe des kleinen thüringischen Stadtroda, weit genug entfernt von all dem Unglück der zurückliegenden Tage. Als der König den Brief diktiert, ist es Sonntagabend, doch schon am Tag zuvor, am 30. Juni 1866, hat er mit seinen Begleitern diesen Ort erreicht. Das kleine, aber feine Schloss gehört seinem Schwiegervater, dem ehemaligen Herzog von Sachsen-Altenburg, und trägt seit Jahrhunderten einen Namen, der gerade jetzt für den König vielversprechender denn je klingt: »Schloss Fröhliche Wiederkunft«. Das muss doch ein gutes Omen sein, oder? Der königliche Brief endet jedenfalls genau mit dieser Hoffnung:3
»Gott gebe, daß es eine frohe Vorbedeutung für uns ist, daß ich nach allen wichtigen Ereignissen, die ich seit vierzehn Tagen erlebt, zuerst meine Füße in Fröhlich Wiederkunft setze, dieses geschichtlich interessante Schloß, dessen Name auch für uns jetzt so bezeichnend ist.«
Glaubt Georg V. tatsächlich, dass es für ihn einst eine »fröhliche Wiederkunft« geben kann? Das ist in diesem Moment nur eine bloße Hoffnung, denn er befindet sich jetzt auf der Flucht, im Ausland, er kann nicht mehr nach Hause. Der Monarch hat alles gewagt, und er hat alles verloren. Er ist jetzt ein König ohne Land, womöglich nicht einmal mehr ein König …
Nur auf den ersten Blick ist dieser Mann ein König in den besten Jahren: Erst vor einem Monat hat er seinen 47. Geburtstag begangen, und im November steht eigentlich sein 15. Thronjubiläum an. Aber dass es in ein paar Monaten in seinem Königreich noch etwas zu feiern gibt, glaubt in seinem Umfeld längst niemand mehr. Schon das ganze Jahr hindurch haben sich in politischer Hinsicht dunkle Wolken über seinem Königreich Hannover zusammengezogen. Und jetzt, nach dem großen »Gewitter«, scheint dieser König als der große Verlierer dazustehen. Ist das seine Schuld? Fraglos hat Georg V. in den zurückliegenden Wochen oft genug die politische Lage falsch eingeschätzt, er hat gravierende Fehler gemacht im diplomatischen und militärischen Spiel der deutschen Dynastien und Staaten. Jetzt steht sein Königreich Hannover ebenso vor dem Aus wie er selbst: Er hat einen Krieg gegen das mächtige Preußen verloren, und dies obendrein ziemlich schmählich nach nur wenigen Tagen Kampf. Er selbst, der sich stets als stolzer und standesbewusster Regent gegeben hat, wird wohl auf die Gnade des Siegers angewiesen sein. Der ist wenigstens so nett, ihm freien Abzug zuzusichern. Immerhin.
Georg V. hat es nie leicht gehabt, auch weil er seit seiner Kindheit erblindet ist. Einige Zeit war sogar darüber gestritten worden, ob er damit überhaupt König werden konnte, bis sein Vater diese Diskussion beendete und an ihm als Thronfolger festhielt. Es ist eine traditionsbewusste Familie, in die der Junge am 27. Mai 1819 hineingeboren wird: Die Welfen gelten als ein stolzes Adelsgeschlecht, das seit dem frühen Mittelalter das Geschehen im Heiligen Römischen Reich deutscher Nation mitbestimmt hat, das mächtige Herrscher wie im 12. Jahrhundert Heinrich den Löwen hervorgebracht hat und das damals zum Konkurrenten der Staufer um die Kaiserkrone wurde. Der norddeutschen Linie gelang im Jahr 1692 der Aufstieg zum Kurfürstentum, damit zählte die Familie fortan zum erlauchten Kreis der deutschen Königswähler. Europäische Bedeutung erlangten die Welfen nach 1714, als das Haus Hannover für 123 Jahre in Personalu