1. KAPITEL
Ladysmith Manor, Sussex, England
Dezember 1801
Sechs Jahre waren vergangen, seit sie ihn zum letzten Mal gesehen hatte, doch versetzte sein Anblick ihr noch immer einen Stich ins Herz. Sie hätte ihn überall wiedererkannt.
Sara Blake faltete sittsam die Hände im Schoß, um zu verbergen, dass sie zitterten, und beugte sich näher an das hohe Fenster. Die Fensterscheibe beschlug von ihrem Atem, als sie hinuntersah auf die schneebedeckte Einfahrt. Ein schwarz gekleideter Gentleman stieg von seinem Wagen und ging auf das Haus zu. Sie erinnerte sich an ein anderes Weihnachtsfest, bei dem er nicht so ernst und düster ausgesehen hatte. Er war mit einem pfauenblauen Gehrock bekleidet gewesen, der seine Augen noch leuchtender erscheinen ließ, wenn sie gemeinsam lachten. Er war der bestaussehende Mann im Ballsaal des Generalgouverneurs gewesen.
Sechs Jahre. Wie sehr hatte sie ihn geliebt und ihm vertraut, so inbrünstig, wie nur eine Siebzehnjährige es kann. Er trug inzwischen die Haare kürzer, wie die Mode es vorschrieb. Doch als der Wind seine Frisur zerzauste, erinnerte sie sich daran, wie weich diese Locken sich angefühlt hatten, wie seidig sie sich an ihre Finger schmiegten, wenn er sie geküsst hatte.
„Sie wissen doch, wer das ist, nicht wahr, Miss Blake?“, fragte Clarissa Fordyce, eine verwöhnte Achtjährige, hochinteressiert. „Das ist der Gentleman, den Mama eigentlich gar nicht zu den Feiertagen einladen wollte, aber Albert bestand darauf.“
„Junge Gentlemen wie dein Bruder haben oft Freunde, mit denen ihre Mütter nicht einverstanden sind“, sagte Sara. Sie bemühte sich, ihre Stimme angemessen unbeteiligt klingen zu lassen, wie eine Gouvernante es immer tun sollte, obwohl ihr Herz viel zu schnell schlug, und die alten Ängste ihre Hände feucht werden ließen. „Man muss erst lernen, sich die richtigen Freunde auszusuchen, und das ist gar nicht so einfach.“
„Diese Wahl war überhaupt nicht klug“, erklärte Clarissa mit fester Stimme. Sie drückte ihre vom Marzipanessen klebrigen Finger an die Scheibe und beobachtete neugierig den Mann, der sicherlich der interessanteste Gast ihrer Mutter in dieser Woche war. „Albert hat gesagt, dass er von allen ‚Saphir-Lord‘ genannt wird und der böseste Teufelskerl von ganz Indien war.“
„Achte auf deine Ausdrucksweise, Clarissa“, meinte Sara tadelnd, aber ihre Wangen wurden warm bei ihren Erinnerungen an die aufregenden Zärtlichkeiten, die sie mit ihm getauscht hatte. Wieso wühlte sein Anblick sie nach all der Zeit noch so auf? „Eine Lady achtet nicht auf das, was alle anderen sagen. Ich bin sicher, der Gentleman hat einen richtigen Name