Prolog
ich, als ich ich war
Die Zeit wird knapp, meine Liebe. Enden wir mit dem Anfang der Welt, ja? Gut.
Es ist seltsam. Meine Erinnerungen sind wie in Bernstein eingeschlossene Insekten. Diese erstarrten, seit Langem verlorenen Lebewesen sind selten heil. Normalerweise gibt es da nur ein Bein, irgendeine Flügelschuppe, ein Stück vom Brustkorb – und das Ganze lässt sich nur aus Bruchstücken erschließen, und durch schartige, schmutzige Risse erkennen. Wenn ich meinen Blick verenge und in die Erinnerungen schaue, sehe ich Gesichter und Ereignisse, die für mich Bedeutung haben sollten, und das haben sie auch, nur … sie haben es nicht. Die Person, die all diese Dinge hautnah miterlebt hat, bin ich, und doch wieder nicht ich.
In diesen Erinnerungen war ich jemand anderes, so wie dieStille eine andere Welt war. Damals, und jetzt. Du, und du.
Damals. Dieses Land bestand einst ausdrei Ländern – die sich im Grunde an der gleichen Stelle wie das befinden, was eines Tages alsStille bezeichnet werden wird. Wiederholte Fünftzeiten werden letztlich zu mehr Eis an den Polen führen, woraufhin das Meer sinken wird und eure »Arktischen« und »Antarktischen« größer und kälter werden. Damals allerdings –
–jetzt, während ich mich an damals erinnere, fühlt es sich an wie jetzt, das meine ich, wenn ich sage, dass es seltsam ist –
Jetzt, in dieser Zeit vor derStille, gibt es im hohen Norden und tiefen Süden annehmbaren Ackerboden. Was du als Westküste vor dir siehst, besteht hauptsächlich aus Sumpf- und Regenwald; beides wird im nächsten Jahrtausend verschwinden. Einige Regionen der Nordmittbreiten existieren noch nicht, sie werden erst durch jahrtausendelange, von eruptiven Impulsen angeregte vulkanische Ergüsse erschaffen. Das Gebiet, das einmal zu Palela werden wird – deiner Heimatstadt? –, existiert noch nicht. Alles in allem keine allzu großen Veränderungen, andererseits ist diesesJetzt nicht lange her, tektonisch betrachtet. Vergiss nicht, wenn wir sagen, dass »die Welt untergegangen ist«, ist das normalerweise eine Lüge. Dem Planeten geht es gut.
Wie bezeichnen wir diese verlorene Welt, diesesJetzt, wenn nicht alsStille?
Lass mich dir zunächst von einer Stadt erzählen.
Es ist eine Stadt, die nach euren Maßstäben falsch erbaut wurde. Keine moderne Gem hätte sich auf diese Art und Weise ausbreiten dürfen, denn sie benötigt zu viele Mauern. Die äußersten Bereiche dieser Stadt haben sich entlang von Flüssen und anderen Lebensadern verzweigt, um zusätzliche Städte hervorzubringen, so ähnlich wie Schimmel, der sich entlang der üppigen Adern des Nährbodens verzweigt und hinzieht. Zu eng beieinander, könnte man meinen. Zu viel sich überlappendes Territorium; sie sind zu sehr verbunden, diese sich ausbreitenden Städte und ihre sich schlängelnde Brut, jeder Teil unfähig zu überleben, sollte er vom Rest abgeschnitten werden.
Manchmal haben diese Kind-Städte aussagekräftige regionale Spitznamen, besonders dann, wenn sie groß oder alt genug sind, um ihrerseits eigene Kind-Städte hervorzubringen. Aber das ist trivial. Deine Wahrnehmung ihrer Verbundenheit ist korrekt: Sie haben die gleiche Infrastruktur, die gleiche Kultur, die gleichen Begierden und Ängste. Jede Stadt ist wie die andere. Alle Städte sind gewissermaßen eine Stadt. Diese Welt, in diesem Jetzt, heißt genau wie diese Stadt: Syl Anagist.
Kannst du wirklich verstehen, wozu eineNation fähig ist, Kind derStille? Das gesamte Alt-Sansia, nachdem es sich aus den Bruchstücken der hundert »Zivilisationen« zusammengesetzt hat, die in der Zeit zwischen Jetzt und Damals leben und sterben, wird im Vergleich dazu nichts sein. Lediglich eine Ansammlung paranoider Stadtstaaten und Gemeinschaften, die übereingekommen sind, um des Überlebens willen miteinander zu teilen. Oh, die Fünftzeiten werden die Welt auf wirklich erbärmliche Träume reduzieren.
Hier,jetzt, sind Träume grenzenlos. Die Bewohner von Syl Anagist haben die Kräfte der Materie und ihrer Zusammensetzung gemeistert; sie haben das Leben so gestaltet, dass es zu ihren Launen passt; sie haben die Geheimnisse des Himmels so gründlich erforscht, dass ihnen dabei langweilig geworden ist und sie ihre Aufmerksamkeit auf den Boden unter ihren Füßen gerichtet haben. Und Syl Anagist leb