Die Diebin des Teufels
Roman
Aus dem amerikanischen Englisch von Heide Franck
Alles, was Esta über Magie zu wissen glaubt, hat sich als Lüge entpuppt. Ihre Eltern sind tot, alte Verbündete wurden zu Feinden, und das Buch der Mysterien war nicht der Schlüssel zur Befreiung der Mageus, wie Esta geglaubt hatte. Nachdem der Magier Harte das Buch stehlen wollte, lebt dessen gefährliche Macht nun in ihm – und kann jederzeit aus ihm herausbrechen. Die dunkle Magie kann nur durch die fünf elementaren Steine gebrochen werden, die über den Kontinent verstreut sind. Gemeinsam mit Harte muss Esta die magische Schwelle überwinden, die New York umgibt, und sich auf eine gefährliche Reise durch das Land begeben. Doch auch ihre Feinde brauchen die elementaren Steine für ihre dunklen Pläne. Und währenddessen droht auch in New York das Chaos auszubrechen …
Die Diebin
1902 – New York
Die Diebin kehrte der Stadt den Rücken – und allem, was einst ihr Leben ausgemacht hatte, all den Lügen, die sie einst geglaubt hatte. Der Schmerz zahlreicher Verluste hatte sie zurechtgeschliffen, und die Last der Erinnerung hatte sie zu etwas Neuem geformt – wie einen Diamanten. Mit diesen schmerzhaften Erinnerungen wappnete sich die Diebin für das, was ihr bevorstand, als sie die eindrucksvolle Brücke betrachtete.
Vor ihr lag die dunkle Straße, führte dorthin, wo die Nacht bereits den Horizont verfärbte und ihren Schatten auf flache Häuser und Baumwipfel fallen ließ. Wo sie nie hingelangen würde – jedenfalls hatte sie das gedacht. In Schritten gemessen, lag es nicht allzu fern, aber zwischen ihr und dem anderen Ufer verlief die Schwelle – mit all ihrer zerstörerischen Macht.
Neben ihr stand der Magier. Früher war er einmal ihr Feind gewesen, ihr stets ebenbürtig. Und nun war er ihr Verbündeter, und um seinetwillen hatte sie alles aufs Spiel gesetzt und war zurückgekommen. Er schauderte. Ob wegen der kühlen Abendluft an seinen nackten Armen oder wegen der schieren Unmöglichkeit ihres Vorhabens, war schwer zu sagen.
Seine Stimme erklang, ein gedämpftes Flüstern im Wind. »Gerade noch gestern hatte ich vor zu sterben. Ich dachte wirklich, ich sei bereit, aber …« Er sah kurz zu ihr herüber, und in seinen sturmgrauen Augen stand all das, was er verschwieg.
»Es wird klappen«, beruhigte sie ihn, nicht weil sie selbst davon überzeugt war, sondern weil es keine Alternative gab. Die Vergangenheit konnte sie vielleicht nicht verändern, konnte weder die Unschuldigen retten noch ihre eigenen Fehler wiedergutmachen, aber dieZukunft würde sie verändern.
Hinter ihnen näherte sich eine Straßenbahn und ließ den Boden unter ihren Füßen vibrieren.
Hier durfte sie niemand sehen.
»Gib mir die Hand«, befahl die Diebin.
Der Magier sah sie fragend an, aber sie streckte ihm die nackte Hand entgegen, auf alles gefasst. Mit nur einer Berührung könnte er all ihre Hoffnungen und Ängste lesen. Mit nur einer Berührung könnte er sie von diesem Weg abbringen. Am besten fand sie jetzt schon heraus, wo er stand.
Da ergriff er ihre Hand.
Kaum berührte er ihre Haut, knisterte es machtvoll an ihrer Handfläche. Schon früher hatte sie die Wärme seiner Gabe gespürt, aber dies war neu. Eine Woge unvertrauter Energie floss über ihre Haut, tastete sie ab, als suchte sie einen Weg in ihrInneres.
Das Buch.
Er hatte es zu erklären versucht – sie zu warnen versucht, als sie aus der vermeintlich sicheren Zukunft, in die er sie gesandt hatte, zurückgekommen war.Diese ganze Macht wohnt jetzt in mir, hatte er gesagt.
Sie hatte es nicht verstanden. Bis zu diesem Moment.
Jetzt wurde die wohlbekannte Wärme seiner Gabe überschattet von einer stärkeren Magie, einer Macht, die einst in den Seiten des Ars Arcana eingeschlossen gewesen war, das die Diebin in ihren Röcken verborgen hatte – ein Buch, für das geliebte Menschen gelogen, gekämpft und ihr Leben gegeben hatten. Jetzt kroch seine Macht langsam an ihr hinauf, schloss sich um ihr Handgelenk, fest und schwer wie der Silberreif an ihrem Arm.
Wie aus weiter Ferne meinte sie Stimmengeflüster zu hören.
»Hör auf«, forderte sie zähneknirschend.