A ljährlich fügen wir Milliarden von Tieren schweres Leid zu und bringen sie ums Leben, nur um geringfügige Vorteile wie etwa den Geschmack ihres Fleisches zu genießen. Da diese Verletzung der Rechte von Tieren zu den gesellschaftlichen Grundordnungen gehört, die wir gemeinsam verantworten, ist sie ein Thema für die politische Philosophie. Bernd Ladwig gibt einen profunden Überblick über die heutige Debatte. Er zeigt auf, dass wir Tieren, deren Lebensbedingungen wir umfassend kontrollieren, Mitgliedschaftsrechte schulden, warnt jedoch zugleich vor ihrer Vermenschlichung. Die letzte politische Verantwortung für gerecht geregelte Beziehungen zu Tieren tragen einzig und allein wir.
In diesem einleitenden Kapitel lege ich meine Ausgangsannahme dar, skizziere den Argumentationsgang und nehme die wichtigsten Ergebnisse vorweg, die ich in späteren Kapiteln eingehend begründen werde. Meine Ausgangsannahme ist, dass vieles, was wir Tieren antun, institutionalisiertes Unrecht ist. Dies spricht dafür, die Tierethik mit der politischen Philosophie zusammenzuführen. Ich umreiße ein tierethisches Standardargument für Tierrechte, das bei einem menschenrechtlichen Minimalkonsens einsetzt. Anschließend gehe ich auf die Grenzen der so begründeten Analogie zwischen Menschen- und Tierrechten ein.
Wie deutlich werden soll, sind weite Teile der Tierethik bei einem eher unpolitischen Verständnis von Tierrechten stehen geblieben. Sie haben etwa die Schutzfunktion von Rechten verabsolutiert und deren Bedeutung für dauerhafte und faire Formen des Zusammenlebens vernachlässigt. Neuere Ansätze verstehen hingegen auch manche Tierrechte als Ansprüche auf Mitgliedschaft und sogar auf politische Mitwirkung. Sie tendieren aber dazu, die Übertragung von Kategorien aus der politischen Philosophie auf Mensch-Tier-Beziehungen zu weit zu treiben. Ich werde in diesem Buch begründen, warum manchen Tieren ein politischer Mitgliedschaftsstatus zusteht, während die Aktivbürgerschaft, wenn wir sie anspruchsvoll genug verstehen, ein menschliches Monopol bleiben wird.
Nicht alle Beziehungen zwischen Mensch und Tier und erst recht nicht alle Tier-Tier-Beziehungen eignen sich zu einer Neubeschreibung und Neubewertung in Begriffen des politischen Denkens wie »Demokratie« oder auch »souveräne Gleichheit«. Manche werden bis auf weiteres oder für immer Teil von Naturzuständen sein. Wenn mir daher ein hochgegriffener Vergleich erlaubt sei: Die vorliegende Theorie soll kritisch imkantischen Sinne sein. Sie soll die Möglichkeiten einer politisch-philosophischen Vertiefung und Erweiterung der Tierethik erkunden, indem sie zugleich deren Grenzen erkennt und benennt. Sie soll allerdings auch kritisch in dem gewöhnlichen Sinne sein, dass sie institutionalisierte Mensch-Tier-Beziehungen normativ beurteilt.
Die politische Philosophie fragt nach unserer öffentlichen Verantwortung. Sie will wissen, welche Normen wir uns geben sollten, um das Zusammenleben auf eine allgemein annehmbare Weise zu regeln. Besonders streng sind die Rechtfertigungsstandards für zwangsbewehrte Gesetze. Sie betreffen uns tiefgreifend und umfassend und wir können ihnen kaum entkommen. Diese Freiheitseinschränkung ist nur dann nicht tyrannisch, wenn alle Gesellschaftsangehörigen sie auch als selbstauferlegt begreifen dürfen. Dazu müssen alle als Gleiche gelten und mit ihren Sichtweisen und Interessen prozedural und substantiell Beachtung finden. Demokratie, Menschenrechte und ein Mindestmaß an egalitärer Verteilung – von Gütern und Chancen – sind hierfür notwendige Bedingungen.
So weit die Standardposition in der heutigen politischen Philosophie. Nun gibt es in allen Gesellschaften Unterworfene, deren Sichtweisen und Interessen prozedural wie substantiell kaum oder gar nicht Beachtung finden. Sie sind zwar keine Adressaten unserer Gesetze, wohl aber deren Leidtragende. Abermillionen empfindungs- und erlebensfähiger nichtmenschlicher Tiere (im Folgenden kurz: Tiere) sind von den Grundsätzen und Regeln, die menschliche Gesellschaften sich geben und mit Zwang bewehren, tiefgreifend, umfassend und unentrinnbar betroffen. Hunde an der Leine, Katzen in Einzimmerwohnungen, Gorillas in Zoogehegen, Elefanten in Zirkussen, Sauen in Abferkelbuchten, Kühe in Ställen, Kälber in Schlachthöfen, Ratten in Laboratorien oder Fische in Aquakulturen sind Unterworfene rechtlich eingeräumter Praktiken.
Unzählige kooperative Unternehmungen von Menschen beruhen auf den Beiträgen von Tieren. Das gilt nicht nur für die Fleisch-, Eier- und Milchproduktion oder für Tierversuche. Tierliche Produkte spielen eine Rolle in Verfahren wie dem Klären von Wein, dem Filtern von Wodka oder dem Entfärben von Zucker.[1] Wer sie ganz vermeiden möchte, muss sich gut auskennen und weite Wege12gehen, denn sie stecken in den unauffälligsten Dingen des Alltags: in Tapeten, Tennisbällen, Klebestreifen und Filmmaterialien.[2] Tiere begleiten und erfreuen uns aber auch als Gefährten, sie helfen uns bei der Verbrechensbekämpfung, sie erweitern unser Wissen und sie entfalten therapeutische Wirkung, etwa auf vereinsamte oder schwerstkranke Menschen.
Unsere Einstellungen zu Tieren schwanken zwischen Sentimentalität und Instrumentalisierung. Manche haben Namen, andere Nummern. Einigen errichten wir Grabsteine, andere werfen wir weg. Einige sehen wir gern frei herumtollen, anderen verweigern wir das Recht, sich um die eigene Achse zu drehen. Einige beobachten wir gern im Wald und auf Wiesen, andere lassen wir durch Spaltenböden die eigenen Exkremente riechen. Einige veranlassen wir zur Entfaltung staunenswerter Fähigkeiten, andere hindern wir an den schlichtesten Verrichtungen und treiben sie so in die Apathie oder in den Wahnsinn. Für einige bezahlen wir teure Operationen, damit sie sechs Monate länger leben können, andere bringen wir lange vor ihrem biologisch möglichen Ende um.
Allein in deutschen Schlachthäusern werden jährlich fast 628 Millionen Hühner und mehr als 58 Millionen Schweine getötet.[3] Die Zahl der jährlichen Schlachtungen in denUSA schätzt die Humane Society of the United States auf zehnMilliarden.[4] Und dabei sind die 10 Milliarden Fische und anderen Meerestiere, die jährlich getötet werden, nicht einmal eingerechnet,[5] obwohl zumindest Fische wahrscheinlich Schmerz empfinden können.[6]
Die Individuen hinter diesen Zahlen sind kaum mehr als bloße13Ressourcen, die menschlichen Zwecken dienen sollen. Viele Politiker in Deutschland sind stolz auf die vergleichsweise strenge Tierschutzgesetzgebung in unserem Land und in der Europäischen Union. Aber diese Gesetzgebung soll die industrielle Verwertung von Tieren, deren Verwandlung in Produktionsmaschinen für Fleisch, Milch oder Eier, nicht einmal perspektivisch ausschließen.
Das deutsche Tierschutzgesetz verbietet es, einem Tier »ohne vernünftigen Grund Schmerzen, Leiden oder Schäden« zuzufügen, dies folge »aus der Verantwortung des Menschen für das Tier als Mitgeschöpf«.[7] Das Gesetz besagt sogar, dass man »ein Wirbeltier« nicht ohne vernünftigen Grund töten darf. Aber es legt diese Klausel großzügig aus. Als vernünftige Gründe gelten etwa die Nachfrage nach billigem Fleisch und das Bestreben, es preisdeckend zu produzieren.
Fleisch gehört nicht zu den Dingen, die Menschen, jedenfalls in unseren Breiten, unbedingt brauchen. Wir Bewohner wohlhabender westlicher Staaten und Städte sind in einer ganz anderen Lage als arme afrikanische Fischer oder als grönländische Inuit, deren ganze Lebensform auf der Robbenjagd beruhen mag. Wir haben genügend vegetarische und zunehmend auch vegane Alternativen. Uns steht ein breites Spektrum an erschwinglichen, bekömmlichen, schmackhaften und menschenwürdigen Nahrungsmitteln zur Verfügung. Wir können uns pflanzlich ernähren, ohne dadurch unsere Gesundheit zu gefährden,[8] asketischen Genussverzicht zu üben, identitäre Pflichten etwa religiöser Art zu verletzen oder einen Zusammenbruch unserer Lebensform zu erleiden. Wenn wir dennoch Fleisch oder andere Tierprodukte essen,[9] so aus Gewohnheit, gesellschaftlicher Konvention oder Vorlieben des Geschmacks.
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