Auszug aus Milenko Goranović: Das Rot, das nach Asche riecht
DAS PLÜSCHGRÜNE HEFT
1 Jula
Das erste Mal sah ich Jula vor vier Jahren. Es war ein trüber Vormittag, Regen. Oktober. Winterkälte. Jemand klopfte an meine Tür. Wer soll denn schon so früh am Tag etwas von mir und Katja wollen? Eine junge Frau, verloren in einem dicken Mantel, Strickkäppchen, Sneakers, Jeans, entschuldigt sich, fragt, ob ich der und der wäre, lächelt dann erleichtert, sagt, sie hätte mich lange gesucht. Sie wäre übrigens auch eine Berlinerin, aber sie käme gerade aus Sarajevo. Sie heiße so und so. Danach schwieg sie, als ob mir ihr Name etwas sagen sollte. Ich konnte mich nicht erinnern, diese Frau jemals gesehen zu haben, weder in Sarajevo noch sonst wo, sie sprach kein Bosnisch, sondern Deutsch, sah trotzdem fremd aus, ich war müde, Katja krank, der Tag trüb, das Treppenhaus zugig, also sagte ich, danke schön, ich habe keine Zeit.
Doch bevor ich die Tür schließen konnte, fügte das Strickkäppchen hinzu, sie wolle ein Buch über die Beledija schreiben. Ich habe die Tür wieder geöffnet. Die Beledija lag mir im Magen, unverdaut seit Jahrzehnten, oder an den Nieren, ich weiß nicht, wo – und diese junge Frau wusste das. Irgendwie. Sie knipste dann das Licht noch einmal an, ich konnte sie jetzt besser sehen, ihr Gesicht war mir noch immer unbekannt, oder jetzt erst richtig, doch jetzt wusste ich, es war keine Verwechslung. Sie heiße Jula Geljo, wiederholte sie, ich müsse mich bestimmt an ihren Vater erinnern. Erst dann begann ich langsam zu begreifen, wer sie war. Sie hatte ich tatsächlich noch nie gesehen. Ihren Vater aber schon.
Geljo Ćopo war ein Architekt, ein guter, der überall gearbeitet hatte und es auch weiterhin hätte tun können, im Westen wie im Osten, er hätte auch gut in Zagreb bleiben können, aus seinem Namen hätte man schwer seine Ethnie herausgelesen, aber er kam nach Sarajevo. Im August 1992 wurde er erschossen.
Die alte Ordnung war weg, die neue war noch nicht da, alles in der Schwebe, alles möglich. Es wurde geliebt und gehasst, Liebeslieder gesungen, Märchen erzählt, Schädel zertrümmert, Kinder verkauft, Hoffnung, Kollaps, Umbruch, Aufbruch, alles. Anarchie, eine Riesenwelle schwappte damals von irgendwoher nach Sarajevo über, der Mob jaulte und jauchzte, quasselte von Freiheit, die von unten kamen nach oben und umgekehrt, alles durcheinander und ich mittendrin; ohne mein Zutun bekam ich eine Position, die ich ganze 97 Tage ausüben durfte: Ich war der Stellvertreter des Direktors der Städtischen Museen, klingt groß, war nichts, ich war nur im falschen Moment am richtigen Ort, oder umgekehrt, so wie es mein ganzes Leben lang war, stillstehen, geschehen lassen, warten. Und ich hatte den richtigen Namen für die komplizierte Arithmetik der Postenverteilung. Aber zu sagen hatte i