In bester Lage
Alexa Rudolph
Nebel lag wie Wattebäusche über den Gräbern. Der Tag war jung und noch kalt und keine einzige Menschenseele mochte so früh unterwegs sein. Erst gegen Mittag kamen die Friedhofsgärtner, Witwen und Vereinsamten über den schmalen Weg zum Bergfriedhof gelaufen, um die Ruhestätten zu besuchen. Es war also noch Zeit und Edmund hatte den herbstlich gefärbten Gottesacker für sich allein. Er musste nicht Auskunft über sein Befinden geben, musste nicht scheu zur Seite treten, wenn der Gärtnertraktor mit Anhänger, darauf Schaufeln und schwarze, krümelige Erde, an ihm vorbeirumpelte. Den Bergfriedhof in dieser atemberaubenden Stille zu erleben, deckte sich mit Edmunds Sehnsucht nach dem eigenen Grab, in das er sich bald legen wollte. Ja, dort wäre dann Friede, nicht nur in seinem einsamen Herzen, auch in seinem Kopf, seinem Gedärm und auf seiner Haut. Er kannte Leute, die sagten, dass sie unbedingt ihr Mobiltelefon mit in den Sarg nehmen wollten, für den Fall, dass sie nicht tot sondern nur scheintot seien. Edmund besaß kein Mobiltelefon und ein solcher Mumpitz zwecks Rückversicherung oder Grabbeigabe wäre ihm nicht in den Sinn gekommen.
Edmund war heute mit Strickmütze, wärmerer Jacke und geschnürten Stiefeln ausgerüstet. In seiner linken Armbeuge hing ein heller, leicht schmuddeliger Stoffbeutel.
Er drückte die Eisenklinke hinunter und trat durch das sich willig öffnende Friedhofstor. Bis vor Kurzem hatten die Scharniere bei diesem Vorgang lauthals gequietscht, was ihm jedes Mal wie ein Hilferuf vorgekommen war. Ein Hilferuf auf dem Friedhof? Der Gedanke, dass hier tatsächlich jemand um Hilfe rufen könnte, bereitete ihm Unbehagen. Also hatte er vor ein paar Tagen ein Kännchen Schmieröl besorgt und das Tor in Ordnung gebracht. Jetzt glitt es so leise und sanft dahin wie die Hand des Pfarrers, die sich nach Maries Beisetzung auf seine Schulter gelegt hatte.»Lieber Edmund, trag deinen Schmerz nicht als Bürde, trag ihn als Krone eurer Liebe und fünfzig Jahre währenden Verbundenheit. Du wirst sehen, Marie ist nicht wirklich fortgegangen, sie ist nur an einem anderen Ort. Eines Tages wirst du ihr folgen, bis dahin hast du noch wichtige Aufgaben zu erfüllen, die dich aufrecht halten werden. Auch wenn deine Füße nicht mehr hüpfen und tanzen, bis zu Maries Grab werden sie dich noch tragen und du kannst mit ihr reden. Glaube mir, lieber Freund, sie wird dich hören und ich bin mir beinahe sicher, sie wird dir auch antworten. Unser Friedhofstor ist nicht verschlossen, du kannst also jederzeit eintreten.«
Schritt für Schritt, er hatte keine Eile und atmete sehr bewusst die würzige Luft des frischen Morgens ein, lief Edmund an den Gräbern entlang und grüßte ihre Bewohner still. Er kannte sie alle, schließlich war er Filialleiter der örtlichen Sparkasse gewesen. Alte Familiennamen, Kindernamen, den Bürgermeister, den Lehrer, den Kaminfeger und seine Töchter, den früheren Besitzer vom Weingut, den Metzger und den Bäcker. Heute gab es keine Metzgerei und keine Bäckerei mehr im Dorf, die waren längst verschwunden