Kapitel 1
Worin man bis zum Horizont sieht
Einen Tag nach seinem Selbstmordversuch hatte Martin ein Vorstellungsgespräch. Auf der zentralen Sterilgutversorgungsabteilung des Inselspitals fragte man ihn, ob ihm ein Arbeitsraum ohne Tageslicht, ein multikulturelles Team oder Spätschichten Schwierigkeiten bereiteten, ob er Rücken- oder Knieprobleme habe. Danach führte man ihn durch die Anlage. Sie war in drei Bereiche aufgeteilt. Im unreinen Bereich wurden die Instrumente aus den Operationssälen entgegengenommen und gesäubert. Im reinen Bereich wurden sie sortiert, mit einem Strichcode beklebt und in einen Sterilisator eingeräumt. Im sterilen Bereich schließlich ließ man sie abkühlen und lagerte sie nach ihren Bestimmungsorten. Es waren exakt dieselben Handgriffe wie bei Martins letzter Stelle. Dasselbe Scheppern, Piepsen und Klirren. Dieselben Grundsätze, die der Abteilungsleiter nachdrücklich aufzählte: Vermeiden von Keimverschleppung, Patientensicherheit, gesetzliche Vorgaben gemäß Medizinprodukteverordnung des Bundesamts für Gesundheit, Artikel neunzehn und zwanzig.
Drei Wochen später lud man Martin zu einem Probetag ein. Man teilte ihn einer Gruppe von Männern mit Schutzbrillen, Handschuhen und hellblauen Schürzen zu. Sie redeten und lachten miteinander, während sie zum Gedudel aus dem Radio über den Waschbecken das Blut von den Geräten schrubbten. Um halb vier konnte er gehen. Er beeilte sich so, dass sein T-Shirt nass war, als er zu den Schließfächern beim Bahnhof kam. Er nahm die Papiertüte mit den leeren Dosen und Flaschen raus, die er am Morgen hier deponiert hatte, klemmte sie auf sein Fahrrad, raste über den Bubenbergplatz und bog in die Monbijoustraße ein. Er fuhr neben den Tramschienen her. Sie führten schnurgerade bergab. Kastanienbäume säumten die Straße, eine Möwe schrie. Martin schaute hoch. Ein ganzer Schwarm flog über ihn, segelte bis zu den hintersten Baumkronen, deren Zwischenraum einen schmalen, dunkelblauen Streifen unter dem Himmel preisgab. Martin fixierte dieses Blau, bis er wieder abbog.
Bei der Müllsammelstelle stieg er vom Rad. Mit der Tüte in der Hand ging er zwischen den Behältern hin und her, las die Aufschriften durch, obwohl sie ihn nicht interessierten: Alu, Papier, braunes, grünes, weißes Glas. Und behielt doch die ganze Zeit die Straßenecke mit den Garagen im Auge, um die Valerie jeweils bog. Dienstags und mittwochs zwischen elf und neun Minuten vor fünf, donnerstags zwischen zwanzig und zweiundzwanzig Minuten nach sieben. Martin warf nur dann etwas in einen Behälter, wenn er sich beobachtet fühlte. So oft wie er hierherkam, musste er sparsam mit seinem Müll umgehen.
Als er sie kommen sah, trat er einen Schritt zurück. Mit einer Tasche über der Schulter, an deren Griff sie sich mit einer Hand festhielt, ging Valerie neben den Garagen vorbei. Sie trug große, runde Ohrringe, ein gestreiftes Oberteil, das eine Schulter freigab, und eine weiße Jeans. Ihr Haar war halblang, leicht gewellt, mit hellen Strähnen, von denen Martin nicht sagen konnte, ob sie gefärbt oder sonnengebleicht waren. Obwohl sie schlank war, hatte sie nicht das, was Martin sich unter einer guten Figur vorstellte. Vielleicht hatte dieser Eindruck auch nur damit zu tun, wie sie sich bewegte. Sie ging in kleinen Schritten, wie jemand, der fürchtet, etwas falsch zu machen. Außerdem spielte sie im Gehen nervös mit ihren Fingern, streckte manchmal ihren Arm durch, um ihn gleich wieder zu beugen. Bildete er sich nur ein, dass er selbst auf diese Distanz die Krähenfüße um ihre Augen sah? Die Fältchen um ihren Mund und an ihrem Hals? Sie war viel zu alt für ihn. Und leider nicht einmal hübsch.
Sie ging auf den sandfarbenen Wohnblock zu, in dessen Hochparterre sie wohnte. Er hatte sie schon auf dem u