: Ina Schmidt
: Über die Vergänglichkeit Eine Philosophie des Abschieds
: edition Körber-Stiftung
: 9783896845603
: 1
: CHF 14.20
:
: Philosophie, Religion
: German
: 280
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Alles, was wir anfangen, geht seinem Ende entgegen; vom Moment der Geburt an ist der Mensch Abschieden ausgesetzt. Ein souveräner Umgang mit dieser existenziellen Erfahrung kann uns helfen, Vergänglichkeit als Teil des Lebens anzuerkennen. Ina Schmidts Philosophie des Abschieds inspiriert zu einer ebenso wichtigen wie tröstlichen Gedankenarbeit. Die Autorin führt uns vor Augen, in wie vielfältigen, all täglichen ebenso wie außergewöhnlichen Zusammenhängen wir Abschied nehmen. Denn es sind ja nicht nur Menschen, von denen wir uns verabschieden, sondern auch Erwartungen und Empfindungen, Überzeugungen und Gewissheiten. Abschied zu nehmen heißt auch, sich der eigenen Verletzlichkeit und Sterblichkeit zu stellen. So schärft Schmidt unseren Blick für die Vielfalt von Vergänglichkeit und zeigt zugleich, dass wir in kleinen wie in großen Abschieden lernen können, dem Phänomen der Vergänglichkeit gestaltend und reflektierend zu begegnen. Das bedeutet nicht, dass Verluste automatisch leichter, Schmerz erträglicher oder Entscheidungen einfacher werden. Doch wenn wir den Abschied als kulturelle und individuelle Praxis begreifen, können wir lernen, das Ende zu akzeptieren.

Ina Schmidt ist Philosophin und Publizistin. Sie promovierte an der Universität Lüneburg über den Einfluss der Lebensphilosophie auf das frühe Denken Martin Heideggers. 2005 gründete Schmidt die 'denkraeume' und bietet seither Seminare, Vorträge und Gespräche zur Philosophie als eine Form der Lebenspraxis an. Sie ist Mitglied der Internationalen Gesellschaft für philosophische Praxis (IGPP) und Referentin der 'brainery ' in Hamburg sowie der 'Gedankenflieger' am Hamburger Literaturhaus. Am Institut für Philosophie der Universität Rostock hat sie einen Lehrauftrag übernommen. Schmidt veröffentlichte zahlreiche philosophische Sachbücher, zuletzt: 'Das Ziel ist im Weg. Eine philosophische Suche nach dem Glück' (2018). Ina Schmidt lebt mit ihrer Familie in Reinbek bei Hamburg.

Ein paar Worte zum Anfang

Wer hat uns also umgedreht, dass wir was wir auch tun, in jener Haltung sind von einem, welcher fortgeht? Wie er auf dem letzten Hügel, der ihm ganz sein Tal noch einmal zeigt, sich wendet, anhält, weilt – so leben wir und nehmen immer Abschied.

RAINERMARIARILKE »DUINESERELEGIEN«

Der Blick aus dem Fenster meines Arbeitszimmers hat sich verändert – nicht durch den Wandel der Jahreszeiten oder die über die Zeit immer höher gewachsenen Bäume, nicht durch das neue Auto der Nachbarn oder den frisch gestrichenen Carport. Nach fast zwanzig Jahren brauchte es nur wenige Tage – und alles sieht anders aus. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite wurde ein Haus abgerissen, ein altes Haus, das schon eine Weile leer stand. Im letzten Jahr war das Fundament gebrochen, es bestand Einsturzgefahr; der Anblick aber hatte sich kaum verändert. Ein schleichender Verfall vielleicht, allmählich verwitterndes Mauerwerk, Moos auf dem Dach oder die Dachrinne, in der das Laub aus dem Herbst einfach den Winter überdauerte. Ein Ort, der ein wenig aus der Zeit gefallen zu sein schien. Eine Vergangenheit konservierend, die in keine Gegenwart mehr münden konnte und keinen neuen Anfang in sich trug. Als in den letzten Tagen die Bagger die Einzelteile des Hauses wie Spielzeug auseinanderrissen, die Treppe in einem Stück im Container landete, der Blick auf ein fast noch intaktes Badezimmer frei wurde und unweigerlich Bilder eines vergangenen Lebens in diesen Räumen vor meinem inneren Auge auftauchten, hatte diese Zerstörung etwas eigenartig Ambivalentes. Auf der einen Seite ging hier etwas auf brutale Weise zu Ende, das einmal der Rahmen für ein Leben gewesen war, und zugleich erschien dieser Ort seit Langem wieder lebendig, im Aufbruch begriffen, eine Leerstelle, offen für eine Zukunft. Nun schaue ich aus dem Fenster und sehe nicht mehr als die Anwesenheit einer Abwesenheit, einen leeren Raum für etwas, das kommen wird, ohne erkennbar zu sein. Es wirkt kahl, ein wenig traurig und trostlos, was dort zurückgeblieben ist, und gleichzeitig fast einladend, wie eine Möglichkeit, die ergriffen werden will. Am Ende ist es nicht mehr und nicht weniger als eine Baulücke, und doch verändert es meinen Blick, zumindest den aus dem Fenster.

Solche Bilder begegnen uns überall, mitten im Alltag. Oft nehmen wir sie kurz wahr und gehen weiter, manchmal aber bleiben wir stehen und schauen genauer hin, halten tatsächlich kurz inne: Wie leben wir mit der Vergänglichkeit von Dingen, Orten und Ereignissen und letztlich mit dem Wissen, dass unser ganzes Leben unvermeidlich zu Ende gehen wird? Häuser werden irgendwann abgerissen oder einstürzen, Überzeugungen geraten ins Wanken, Moden überleben sich selbst, und politische Systeme brechen zusammen. Auch wir selbst und all das, was für uns von Bedeutung ist, wird irgendwann der Vergangenheit angehören. Manches für immer, anderes wandelt sich und wird zu etwas Neuem. Darin liegt keineswegs eine überraschende Einsicht, aber so selbstverständlich sie uns erscheint, so sehr trifft sie uns manchmal in ebendieser Endgültigkeit, und es ist bei aller Selbstverständlichkeit schwer, wirklich mit ihr zu leben. Wie also verorten wir uns in diesem lebendigen Spiel aus Kommen und Gehen, aus Anfang und Ende, aus Verwundbarkeit und Heilung? Was soll bleiben und kann es dennoch nicht? – Wir bewahren Vergangenheit und erworbenes Wissen in unseren Erinnerungen, kulturellen Gepflogenheiten, Traditionen und Gedenkzeremonien, und doch wandelt sich auch diese gut gepflegte und konservierte Vergangenheit im Laufe der Jahre und Generationen.

Mit dieser Ambivalenz der Vergänglichkeit, die unser Leben bestimmt und der wir dennoch zu widerstehen versuchen, beschäftigen wir Menschen uns, seitdem wir denken können. In der griechischen Antike sah Platon die produktive Seite der Vergänglichkeit: Er hielt die Angst vor der eigenen Sterblichkeit für die wichtigste Bedingung menschlicher Schaffenskraft. Epikur hingegen war rund eine Generation später überzeugt, dass die eigene Vergänglichkeit den Aberglauben fördere und uns in der Verteidigung unserer Glaubenssätze zu den gefährlichsten und grausamsten Taten verleite. Die Not von Abschieden, Trennungen und Verlusterfahru