Ist die Hochbahn zu dieser Zeit sonst auch so voll? Oder bin ich einfach in den falschen Wagon gestiegen? Jedenfalls habe ich das miese Gefühl, die Luft meines Sitznachbarn zu atmen, bevor der etwas davon hat. Muss meine Knie fest geschlossen halten, damit sie nicht an der schwitzigen Haut eines anderen kleben bleiben.
Gerade jetzt, gerade in dieser Nacht hätte ich mir eine unbesetzte Bahn gewünscht, oder einfach mehr Luft zum Atmen. Nicht das Gefühl, den Typen neben mir gleich abzuschlecken, wenn ich den Kopf zur Seite drehe, um auf der Anzeige nach den Stationen zu sehen.
Stocksteif und bewegungslos verharre ich auf meinem Sitz, die Hände fest auf meine Oberschenkel gedrückt, und starre geradeaus. Auf der mir gegenüberliegenden Seite sitzen die anderen Menschen Schulter an Schulter und werfen ihre zwei Schatten gegen das spiegelnde Fensterglas: Den Schatten ihres Körpers, der mit schemenhaften Silhouetten die Scheibe verdunkelt und den, den der Chip in ihrem Kopf wirft; ihren richtigen Schatten, der sie so viel besser abbildet. Ihre Timeline.
In der Hochbahn, zeigt jede von ihnen an. Manchmal ist diese Offensichtlichkeit der Timelines fast schon ein bisschen unerträglich. Darunter Bilder, Verlinkungen, Aktionsfelder der letzten Minuten und Stunden; alles, was der Chip aufgesaugt hat, jeden Satz, jeden Schritt, eine endlose Chronik von:Spricht mit … Arbeitet an … Fühlt sich … gut, müde, gestresst, motiviert … Ich müsste nur ein paar Minuten länger daran hängenbleiben und ich wüsste alles über ihren Tag. Doch ich entschärfe meine Sicht, lasse die Szenerie zu einem unruhigen Lichterbrei verschwimmen. In Nächten wie diesen sind Gelächter, Gespräche, schöne Momente, die kleinen Erfolge und geistreichen Momente von fremden Menschen kaum auszuhalten.
Ich lasse meinen Kopf gegen die Fensterscheibe hinter mir sinken und blinzele. Meine verdammten Fingerspitzen vibrieren, als wären sie die Hochbahn selbst.
Spitze Finger in meinem Haar.
Ich presse die Zähne aufeinander. Knirsche. Atme flach und hart, hoffend, dass mein Sitznachbar es nicht hört. Genug, dass mein Puls über meine Timeline zuckt wie ein Up-Tempo-Song.
Spitze, sanfte Finger.
Ich pfeife Luft durch die Zähne, einen zittrigen Schwall angestauter, angehaltener Luft.
Warum tue ich mir das an?
»Nächste Station: Apple Square«, säuselt es glockenklar aus den unsichtbaren Lautsprechern über unseren Köpfen. Das bisher noch abgedunkelte Licht im Wagon flammt hell auf und frisst alle natürlichen Schatten. Wir rauschen in den nächsten Bahnhof ein. Inden Bahnhof. Ich kratze mit den Fingernägeln so unauffällig wie möglich über den glatten Stoff, der meine Beine bedeckt, in der Hoffnung, darin ein Ventil zu finden. In mir staut sich Hitze. Gedankenhitze.
Der Geruch nach Parfüm.
Hier ist sie ausgestiegen. Genau hier, genau eine Station zu früh. Ich drehe den Kopf zur Seite und lasse meinen Blick unruhig über den Bahnsteig gehen. Plötzlich kann ich ihre Anwesenheit fast spüren. Physisch. Kann ihre Schritte auf dem dämpfenden Boden hören. Kann ihren Schweiß riechen, der sich mit dem subtil-zitronigen Aroma der Klimaanlage mischt.
Nervös warte ich darauf, dass sich die Türen wieder schließen, als drei letzte Fahrgäste mit langen Schritten in den Wagon steigen. Sie bleiben im Stehabteil stehen – und trotzdem wird der Wagon schlagartig enger. Ihr Auftreten macht aus drei Leuten zwanzig und ihre Stimmen, die sich ganz natürlich zwischen die elektronischen Ansagen mischen, füllen plötzlich auch im gedämpften Tonfall den ganzen Hochbahnwagen. Ich presse meinen Hinterkopf noch fester gegen die Glasscheibe, so fest, dass es wehtut. Warum bin ich hier? Warum tue ich mir das an? Es wird nichts verbessern, wird mich nicht vom ganzen Müll in meinem Kopf befreien. Und ich hatte vergessen, dass ich solchen Menschen jederzeit über den Weg laufen kann.
Paradiser.