Fünftes Kapitel
Ein winziger Tropfen
Die hierauf folgenden Minuten, in welchen der Herzog und ich allein im Raume standen, zählen zu den längsten und peinvollsten meines Lebens. Waren wir doch beide von tiefster Ratlosigkeit erfüllt. Nun ist es für einen Dichter nichts Schlimmes, ratlos zu sein. In diesem Zustand befinden wir uns immer, wenn wir an einem neuen Werk arbeiten. Vor jedem Satz, welchen wir schließlich zu Papiere bringen, sind wir zunächst vollständig ratlos. Dann – nach einigem Nachdenken, Grübeln und Erwägen – finden wir schließlich eine Lösung, welche wir niederschreiben, nur um gleich darauf in die nächste Ratlosigkeit zu verfallen und immer so fort. Ich glaube, ohne Übertreibung sagen zu dürfen, dass der Zustand der Ratlosigkeit neun Zehntel des Dichtens ausmacht. Hochgestellte Persönlichkeiten hingegen – Herzöge beispielsweise – vermögen diesem Zustande recht wenig abzugewinnen, insbesondere dann, wenn diese Ratlosigkeit vor den Augen von Untertanen stattfindet, so wie es in diesem Moment der Fall war. Niemand von uns sagte etwas, es gab nichts zu sagen. Der Herzog litt sichtlich daran, von Goethe wie ein dummer Junge stehen gelassen worden zu sein, und ich litt, weil ich durch meine Anwesenheit seine Demütigung noch vergrößerte und er mich zweyfellos dafür hasste. Die Stille war furchtbar. Mir kam der Gedanke, ein wenig zu husten, also hustete ich ein wenig, aber nach nicht mal einer viertel Minute war ich damit fertig und nun erschien mir die Stille im Raum gar noch stiller als zuvor. Liebend gern hätte ich mich aus dem Fenster gestürzt, welches Goethe ja bereits – wenn vielleicht auch nicht zu diesem Zwecke – geöffnet hatte.
Nachdem wir eine kleine Ewigkeit wie die Hornochsen im Zimmer herumgestanden hatten, wandte sich der Herzog, irgendetwas Unverständliches brummend, ab und zündete äußerst umständlich seine Pfeife an, während ich mich darein rettete, das aufgebrochene Thürschloss zu untersuchen. Ich betrachtet es genau von beiden Seiten, aber das einzige, was mir auffiel, war, dass es aufgebrochen war. Ich trat ans Fenster. Vielleicht würde ich entdecken können, wonach Goethe Ausschau gehalten hatte. Zu meiner Überraschung war das, was ich entdeckte, Goethe selbst, welcher langsam, nach vorne gebeugt wie ein lebendiger rechter Winkel, unter dem Fenster auf und ab ging; offenbar auf der Suche nach etwas. Alle Augenblicke schien er etwas aufzuheben, doch ich war zu weit entfernt, um erkennen zu können, worum es sich handelte. Ich machte den Herzog auf Goethens Tun aufmerksam, aber just als dieser ans Fenster trat, beendete Goethe sein Suchen und strebte nun eiligen Schrittes wieder dem Schlosstore zu. Bald darauf trat er etwas außer Atem zu uns ins Zimmer. »Das fand ich direkt unter dem Fenster im Gras.« Mit ausgestrecktem Arme hielt er uns seine offene Hand hin, in welcher sich etwas Glitzerndes befand. Wir traten näher, um es genauer in Augenschein zu nehmen, und erblickten eine Anzahl kleiner Splitter aus sehr dünnem Glase sowie einen fein ziselierten flachen Gegenstand aus Gold. Erst auf den zweiten Blick wurde ich gewahr, um was es sich handelte, es war ein Uhrzeiger.
»Da soll mich doch der Teufel holen!« Mit dem Ausdruck unerhörter Verwirrung blickte der Herzog zu Goethe auf.
»Unten ist ein Loch in der Grasnarbe, verdeckt mit einigen Blättern, die zweyfellos eilig von einem Busche abgerissen worden sind. Offenbar hat der Eindringling die Uhr hier aus dem Fenster geworfen und dann unten im Schutze der Dunkelheit fortgeschafft.«
»Warum? Warum denn nur?!« Der Herzog ließ sich auf seinen Stuhl sinken – ein Bild des Jammers. Fassungslos schüttelte er den Kopf: »Die Uhr muss vollständig zerstört worden sein, sie ist keine