: Jack London
: Martin Eden Beide Bände
: Null Papier Verlag
: 9783962816995
: Klassiker bei Null Papier
: 2
: CHF 1.80
:
: Spannung
: German
: 626
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Martin Eden ist Londons am stärksten autobiografisch geprägter Roman. Erzählt wird die Geschichte eines jungen Mannes aus einfachen Verhältnissen, der im Kampf um seine große Liebe an der Realität der Welt zu zerbrechen droht. Der titelgebende Martin Enden ist ein ungebildeter, einfacher Mann mit einem wachen Verstand. Als er sich in die für ihn unerreichbare junge Ruth verliebt, beschließt er, sich im autodidaktischen Lernen seiner Angebeteten würdig zu erweisen. Nach anfänglichen Rückschlägen stellt sich bei ihm der Erfolg ein, er wird ein gefeierter Schriftsteller. Aber trotz all seiner Bemühungen drohen sein Enthusiasmus und seine Liebe an den Klippen einer hartherzigen Welt zu zerschellen. Das Schicksal scheint ihm das Glück letztlich nicht gönnen zu wollen. Der Roman wurde mehrfach für Film oder Fernsehen adaptiert. Bereits 1914 entstand unter der Regie von Hobart Bosworth eine Verfilmung, an der Jack London selbst mitarbeitete und in der er auch zu sehen ist. Null Papier Verlag

Ein beliebtes Thema Londons war der Konflikt zwischen Natur und Kultur. Als Kind schon auf Bücher versessen, nahm das Leben ihn früh in die Pflicht und ließ ihn als Jugendlichen in einer Fabrik mehr als 16 Stunden täglich arbeiten - Erfahrungen, die in ihm einen fortschrittlichen und liberalen Geist wachsen ließen. Seine Berichte über die schlechten Arbeitsbedingungen der 'einfachen Leute' werden heute verglichen mit den Romanen von Charles Dickens. Zwischen 1899 und 1916 verfasste er über 50 Bücher, einschließlich Roman- und Sachbuch, hunderte von Kurzgeschichten und zahllose Artikel in einer großen thematischen Bandbreite. London starb jung im Alter von vierzig Jahren an Nierenversagen, bis zuletzt war er schriftstellerisch sehr aktiv.

1


Der eine öff­ne­te die Tür mit ei­nem Drücker und trat ein. Ihm folg­te ein jun­ger Bur­sche, der lin­kisch die Müt­ze ab­nahm. Sei­ne Klei­dung war derb und er­in­ner­te an die See; of­fen­bar fühl­te er sich in der ge­räu­mi­gen Hal­le wie ein Fisch auf dem Tro­cke­nen. Er wuss­te nicht, was er mit sei­ner Müt­ze an­fan­gen soll­te und woll­te sie ge­ra­de in die Ho­sen­ta­sche stop­fen, als der an­de­re sie ihm ab­nahm. Es war eine ganz ru­hi­ge, na­tür­li­che Hand­lung, und der lin­ki­sche jun­ge Bur­sche wuss­te sie zu schät­zen. »Er hat Ver­ständ­nis da­für«, dach­te er. »Er wird mir schon wei­ter­hel­fen.«

Er folg­te dem an­de­ren auf den Fer­sen, in­dem er die Schul­tern vor und zu­rück schob und die Füße un­be­wusst weit aus­ein­an­der­setz­te, als höbe und senk­te sich der ebe­ne Bo­den wie Mee­res­wo­gen. Die großen Räu­me schie­nen ihm zu eng für sei­nen rol­len­den Gang, und er hat­te selbst eine furcht­ba­re Angst, dass sei­ne brei­ten Schul­tern mit den Tür­rah­men kol­li­die­ren oder die Kunst­ge­gen­stän­de von dem nied­ri­gen Ka­min fe­gen wür­den. Er prall­te zwi­schen den ver­schie­de­nen Din­gen hin und her und ver­viel­fäl­tig­te da­durch die Ge­fah­ren, die in Wirk­lich­keit nur in sei­ner Ein­bil­dung be­stan­den. Zwi­schen ei­nem Flü­gel und ei­nem bü­cher­be­la­de­nen Tisch in der Mit­te des Zim­mers wäre Platz ge­nug für ein hal­b­es Dut­zend Män­ner ne­ben­ein­an­der ge­we­sen, aber er wag­te den Weg nur mit Angst und Be­ben. Sei­ne schwe­ren Arme hin­gen schlaff an sei­nen Sei­ten her­ab. Er wuss­te nicht, was er mit die­sen Ar­men und Hän­den an­fan­gen soll­te, und als sei­ne ge­ängs­tig­te Fan­ta­sie ihm vor­spie­gel­te, dass er die Bü­cher auf dem Ti­sche be­rüh­ren könn­te, mach­te er wie ein scheu­es Pferd einen Satz nach der an­de­ren Sei­te und ent­ging mit Mühe und Not ei­nem Zu­sam­men­stoß mit dem Kla­vier­sche­mel. Er be­merk­te den leich­ten Gang des an­de­ren vor ihm, und zum ers­ten Mal wur­de ihm klar, dass sein Gang sich von dem an­de­rer Leu­te un­ter­schied. Plötz­lich über­kam ihn ein Ge­fühl der Scham über sei­ne ei­ge­ne Un­ge­schick­lich­keit. Der Schweiß brach in klei­nen Tröpf­chen auf sei­ner Stirn aus, er blieb ste­hen und wisch­te sich das son­nen­ver­brann­te Ge­sicht mit sei­nem Ta­schen­tuch.

»War­t’ ein biss­chen, Ar­thur, mein Jun­ge«, sag­te er, in­dem er sei­ne Angst hin­ter ei­nem scherz­haf­ten Auf­tre­ten zu ver­ber­gen such­te. »Das ist zu viel auf ein­mal für dei­nen er­ge­be­nen Die­ner. Du musst mir Zeit las­sen, mal Luft zu schöp­fen. Du weißt, dass ich nicht mit­kom­men woll­te, und ver­mut­lich wird dei­ne Fa­mi­lie sich auch nicht ge­ra­de so­viel dar­aus ma­chen, mich ken­nen­zu­ler­nen.«

»Lass nur«, lau­te­te die be­ru­hi­gen­de Ant­wort. »Du brauchst nicht ban­ge vor uns zu sein. Wir sind ganz ein­fa­che Men­schen. Hal­lo, da ist ja ein Brief für mich!« Er trat an den Tisch, riss einen Brief auf und be­gann zu le­sen, so­dass der Frem­de Ge­le­gen­heit hat­te, sich zu sam­meln. Und der Frem­de ver­stand ihn und war ihm dank­bar. Er hat­te selbst die Gabe des Ver­ste­hens, und auch jetzt ver­ließ sie ihn nicht trotz sei­ner Ängst­lich­keit. Er trock­ne­te sich die Stirn und sah sich ru­hi­ger um, wenn in sei­nen Au­gen auch der Aus­druck des wil­den Tie­res war, das die Fal­le fürch­tet. Er be­fand sich in ei­ner un­be­kann­ten Um­ge­bung, fürch­te­te sich vor dem, was da ge­sche­hen moch­te, und wuss­te nicht, wie er sich be­neh­men soll­te; aber er war sich sei­ner Un­ge­schick­lich­keit wohl be­wusst und fürch­te­te, dass sein Geist und sei­ne See­le eben­so ge­lähmt wa­ren wie sein Kör­per. Er war sehr emp­find­sam, hoff­nungs­los selbst­be­wusst, und der be­lus­tig­te Blick, den der an­de­re ihm heim­lich über den Rand des Brie­fes zu­warf, brann­te wie ein Dolch­stoß in ihm. Er ließ sich je­doch nichts mer­ken, denn un­ter den Din­gen, die er ge­lernt hat­te, be­fand sich auch Selbst­be­herr­schung. Aber der Dolch­stoß hat­te auch sei­nen Stolz ge­trof­fen. Er ver­wünsch­te sich, weil er ge­kom­men war, und be­schloss gleich­zei­tig, die nun ein­mal be­gon­ne­ne Sa­che auch durch­zu­füh­ren. Die Li­ni­en in sei­nem Ge­sicht wur­den schär­fer, und ein kampf­be­rei­ter Aus­druck trat in sei­ne Au­gen. Er sah sich mit grö­ße­rer Sorg­lo­sig­keit um und fühl­te mit sei­ner schnel­len Auf­fas­sungs­ga­be, wie jede Ein­zel­heit in dem schö­nen Raum sich sei­nem Be­wusst­sein ein­präg­te. Sei­ne Au­gen stan­den weit aus­ein­an­der; nichts in­ner­halb ih­res Ge­sichts­krei­ses ent­ging ihm; und wie sie die Schön­heit, die sie sa­hen, tran­ken, schwand der kampf­be­rei­te Aus­druck in ih­nen und wich ei­ner war­men Glut. Er war emp­fäng­lich für Schön­heit, und hier gab es ge­nug auf­zu­neh­men.

Ein Öl­ge­mäl­de fes­sel­te ihn. Schwe­re Bran­dung don­ner­te kra­chend ge­gen einen vor­sprin­gen­den Fel­sen; dro­hen­de Sturm­wol­ken be­deck­ten den Him­mel, und vor der Bran­dung lag ein Lot­sen­scho­ner mit gereff­ten Se­geln, hol­te ge­ra­de über, so­dass man jede Ein­zel­heit auf sei­nem Deck sah, und wur­de von den Wel­len in ein wol­ki­ges Aben­d­rot ge­ho­ben. Das war Schön­heit, und er fühl­te sich un­wi­der­steh­lich da­von an­ge­zo­gen. Er ver­gaß sei­nen lin­ki­schen Gang und trat ganz dicht an das Ge­mäl­de her­an. Da schwand die Schön­heit von der Lein­wand. Sein Ge­sicht drück­te Be­stür­zung aus. Er starr­te auf et­was, das schein­bar nichts als eine nach­läs­si­ge Schmie­re­rei war. Dann trat er wie­der zu­rück. So­fort kehr­te alle Schön­heit auf die Lein­wand zu­rück. »Ein Trick­bild«, dach­te er und wand­te sich ab, fand aber doch in­mit­ten der vie­len Ein­drücke, die auf ihn ein­stürm­ten, Zeit, sich dar­über zu är­gern, dass man so­viel Schön­heit auf ein Trick­bild ge­op­fert hat­te. Von Ma­le­rei ver­stand er nichts. Er war zwi­schen Öl­dru­cken und Li­tho­gra­fi­en auf­ge­wach­sen, die in der Nähe wie aus der Fer­ne im­mer gleich scharf und deut­lich wa­ren. Zwar hat­te er in Schau­fens­tern Ge­mäl­de ge­se­hen, aber die Schei­be hat­te ihn ver­hin­dert, dicht an sie her­an­zu­tre­ten.

Er blick­te sich nach sei­nem Freun­de um, der im­mer noch sei­nen Brief las, und sah die Bü­cher auf dem Ti­sche. In sei­ne Au­gen trat der träu­me­ri­sche, sehn­süch­ti­ge Aus­druck ei­nes Hung­ri­gen, der et­was Ess­ba­res sieht. Ei­ner Ein­ge­bung fol­gend, trat er mit ei­nem ein­zi­gen Schritt und ei­nem Ruck der Schul­tern von rechts nach links an den Tisch, wo er zärt­lich über die Bü­cher zu strei­chen be­gann. Er be­trach­te­te Ti­tel und Ver­fas­ser­na­men, las Bruch­stücke von ih­rem In­halt, lieb­kos­te die Bän­de im­mer wie­der mit Au­gen und Hän­den und er­kann­te ein Buch, das er ge­le­sen hat­te; die üb­ri­gen Bü­cher und Schrift­stel­ler wa­ren ihm fremd. Ein Buch von Swin­bur­ne fiel ihm plötz­lich in die Hand. Er be­gann dar­in zu le­sen, ver­gaß bald ganz, wo er sich be­fand, und sein Ge­sicht leuch­te­te. Zwei­mal blät­ter­te er zu­rück, um den Na­men des Ver­fas­sers zu se­hen. Swin­bur­ne! Den Na­men woll­te er sich mer­ken. Der Mann hat­te Au­gen im Kopf und hat­te wahr­haf­tig Far­ben und...