: Ana Marwan
: Der Kreis des Weberknechts
: Otto Müller Verlag
: 9783701362714
: 1
: CHF 15.90
:
: Erzählende Literatur
: German
: 196
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Karl Lipitsch mag keine Menschen. Er wohnt alleine, da er eine tiefe Abneigung gegen die Gesellschaft hegt und Gespräche meiden möchte. Häufig sitzt er lesend im Garten oder schreibt an seiner umfassenden philosophischen Abhandlung. Doch die Überzeugung, fortan als Einsiedler in Einsamkeit zu leben und damit glücklich zu sein, gerät schnell ins Wanken. Durch einen Zufall (sofern es denn tatsächlich einer war) macht er nähere Bekanntschaft mit seiner Nachbarin Mathilde. Beide umkreisen den anderen, jeder in der Überzeugung, der Überlegene zu sein. Und so beobachten wir Lipitsch bei seinen Bemühungen, ihr nicht ins fein gesponnene Netz zu gehen. Doch je mehr Lipitsch zappelt, desto kräftiger verfängt er sich in Mathildes Fäden...

Marwan, Ana Angaben zur Person: Ana Marwan,1980 in Murska Sobota (Slowenien) geboren, aufgewachsen in Ljubljana. Studium der Vergleichenden Literaturwissenschaft in Ljubljana und Romanistik in Wien. Preisträgerin des exil-literaturpreises 'schreiben zwischen den Kulturen' 2008. Der Kreis des Weberknechts ist ihr erster Roman.

Ach, Mathilde, Mathilde, wann kommst du wieder? Ich verzeihe dir alles, ich entschuldige mich für alles, ich stehe in deiner Schuld, du bist mein letztes Glück.

Manchmal war sie da, manchmal nicht, und der Tag kam, uneingeladen, aber nicht unerwartet, an dem Lipitsch bei dem Gedanken an Mathilde zum ersten Mal einen Schmerz fühlte. So einen Schmerz spürte er überhaupt zum ersten Mal. Er fing in der Mitte des Körpers an, lass uns das überspitzt das Herz nennen, und schoss wie in einem flüssigen Strahl gleichzeitig nach oben und nach unten. Er endete in einem Schauer hinter seinen Wangen. Es war kein gänzlich unangenehmer Schmerz: Man wollte ihn zwar beseitigen, aber man glaubte, dies wäre so einfach, dass man ruhig noch ein wenig genussvoll dabei verweilen durfte.

Und so dachte Lipitsch regelmäßig an Mathilde, fest davon überzeugt, dass er Herr seiner Gedanken war und dass er jederzeit aufhören konnte – bis es zu spät war.

Als an einem solch schmerzvollen Tage Mathilde Lipitsch am Gartenzaun fragte, wo er eigentlich gewesen war, damals, als sie sich am Flughafen getroffen hatten, schaute Lipitsch weg, links an ihr vorbei, und gestattete seiner momentanen Traurigkeit für eine alte einzuspringen und sich so verkleidet zu zeigen. Sogar seine Augen waren wässrig geworden. Mathilde wollte ihm nicht zu nahe treten! Nein, nein, es ist schon gut, sie hatte es ja nicht wissen können.

Er meinte, er hätte nicht fahren sollen. Alle hatten ihm ihre persönliche Traurigkeit aufgedrängt, als ob es