1. KAPITEL
Unschlüssig trat Daniel von einem Fuß auf den anderen, während er vor der geschlossenen Haustür wartete.
Es war die Tür seines Bruders.
Daniel hatte absolut keine Ahnung, was ihn erwartete.
Einen ganzen Monat intensiver Seelenforschung hatte er gebraucht, um endlich den Mut aufzubringen, diesen gigantischen Schritt zu wagen. Um Colorado zu verlassen und den langen Weg nach Rust Creek Falls in Montana zurückzulegen.
Zurück in seine Heimatstadt und zu seinen Wurzeln.
Zurück an den Ort, an dem vor zwölf Jahren alles in die Binsen gegangen war.
Paradoxerweise zogen ihn ein- und dieselben Dinge nach Rust Creek Falls zurück, die ihn überhaupt erst veranlasst hatten, sich so lange fernzuhalten.
Bereits drei Mal hatte er eine Hand gehoben, um an die Tür zu klopfen. Jedes Mal hatte ihn der Mut verlassen und er die Hand wieder sinken lassen.
Komm schon. Du bist nicht den ganzen Weg hergekommen, um im letzten Moment zu kneifen. Das bist nicht du. Oder vielleicht auch doch. Warum sonst hatte er es seit über einer Dekade vermieden, sich mit irgendeinem seiner Geschwister in Verbindung zu setzen?
Die ersten zwei Jahre seines selbstgewählten Exils hatte er mit seinen älteren Brüdern Luke und Bailey verbracht. Dann waren die beiden ihrer eigenen Wege gegangen.
Mittlerweile war Daniel es leid, allein zu sein. Niemanden zu haben, mit dem er seine Erinnerungen aus der Kindheit teilen konnte. Keine Familie zu haben.
Er hatte sich eingeredet, seinen Frieden mit der Situation geschlossen zu haben. Schließlich wusste er nicht einmal, wo seine Brüder und Schwestern überhaupt steckten.
Doch Jamies Stimme in der Fernsehsendung zu hören, hatte alles verändert.
Plötzlich hatte Daniel das Gefühl, wieder dazuzugehören. Nun wusste er, dass zumindest einer seiner Angehörigen noch immer in Rust Creek Falls lebte. Er musste nur auf ihn zugehen und die brüderliche Beziehung auffrischen, um wieder eine Familie zu haben.
Das war ihm ursprünglich recht einfach erschienen, doch nun war er sich nicht mehr so sicher.
Finde wenigstens heraus, ob er mit dir reden will. Er holte tief Luft und hob erneut die Hand. Diesmal klopfte er tatsächlich an.
Sein Herz pochte, während er wartete.
Es war später Nachmittag, schon beinahe Abend.Was, wenn keiner zu Hause ist? Was, wenn Jamie die Tür aufmacht und mich zum Teufel jagt? Was, wenn …?
Für weitere Spekulationen oder Wankelmut blieb keine Gelegenheit. Denn die Tür öffnete sich. Eine ältere, erwachsene Version des Jungen, den Daniel vor zwölf Jahren zurückgelassen hatte, stand im Eingang.
Für einen Moment behielt Jamie Stockton eine ausdruckslose Miene bei, als stünde er einem Fremden gegenüber. Dann huschte eine Vielzahl von Emotionen in rascher Abfolge über sein Gesicht. Schließlich fragte er mit rauer Stimme: „Danny?“
Daniels Lippen verzogen sich zu einem flüchtigen nervösen Lächeln. „Ja, ich bin’s“, bestätigte er mit verlegener Stimme. Er räusperte sich. „Ich hätte vorher anrufen sollen, aber ich wusste ja nicht, wie du reagieren würdest. Ich wollte nicht riskieren, dass du mich …“
Unverhofft schloss Jamie ihn in die Arme und drückte ihn herzlich an sich. „O mein Gott! Danny! Bist du’s wirklich?“ Er hielt ihn fest, als fürchtete er, sein großer Bruder könnte sich andernfalls in Luft auflösen.
Nach einer Weile musste Daniel schließlich sagen: „Ich fürchte, du zerquetschst mir