Am 12. März 2019, dem Tag, an dem das Internet 30 Jahre alt wurde, saß ich an meinem Schreibtisch und blätterte inVom Sinn unseres Lebens, einem Buch, das mir am 16. April 1989 – also nur einen guten Monatnachder Geburt des Internets und ein halbes Jahrvordem Mauerfall und dem Ende der DDR – im Kino International vom »Zentralen Ausschuss für Jugendweihe in der Deutschen Demokratischen Republik« überreicht wurde. Es war ein Propagandaband voller unfreiwilliger Komik.
Wer mit dem Begriff Jugendweihe nichts anfangen kann: Sie ist gewissermaßen eine Konfirmation ohne Gott. Das lag daran, dass die DDR mit Gott nicht viel anfangen konnte. Also wurde er durch »die große und edle Sache des Sozialismus« ersetzt. Die Staatsführung hat versucht, eine Gesellschaftsordnung religiös aufzuladen, indem sie ein ähnliches Ritual wie die Kirchen benutzte. Es hat nicht wirklich geklappt. Obwohl die führenden Köpfe der SED es sich sicher gewünscht hätten, haben – soweit ich weiß – die Leute auf dem Sterbebett im Angesicht ihres nahenden Todes dann doch eher nach Gott gerufen und nicht nach ihrem Parteisekretär.
Es ist ein merkwürdiger Zufall, dass das Ende der DDR mit der Geburt des Internets zusammenfällt. Diese Ereignisse stehen schließlich für die beiden wichtigsten Umbrüche in meinem Leben. Es gibt einschneidende Erlebnisse, die ein Leben teilen – in die Zeit davor und die Zeit danach. Zum ersten Mal wurde mein Leben durch den Mauerfall vor 30 Jahren förmlich umgewälzt. Der zweite Umbruch findet gerade statt, sukzessiv, Stein für Stein – es ist die Zeit, in der wir leben. Damals musste ich mich als Ostdeutscher in ein bestehendes System einfügen. Heute betrifft es uns alle –wir erleben, wie durch die digitale Revolution etwas vollkommen Neues entsteht, das nur schwer einzuschätzen ist. Es ist kein harter Schnitt wie die Wiedervereinigung, es ist ein Prozess, an dessen Anfang wir gerade stehen, der das Leben vieler bereits geändert hat und an dessen Ende sich unser aller Leben grundlegend geändert haben wird.
Beim ersten Umbruch meines Lebens war ich 14 Jahre alt. Ich war in Ost-Berlin aufgewachsen und in der DDR sozialisiert, aber noch jung genug, um mich wie selbstverständlich im Kapitalismus zurechtzufinden, als die Mauer fiel. Ich bilde mir jedoch ein, durch meine ostdeutsche Vergangenheit einen sensibleren Blick für viele Details zu haben, den Menschen, die im Kapitalismus geboren und aufgewachsen sind, nicht besitzen, weil sie nie einen anderen Entwurf kennengelernt haben.
Inzwischen habe ich mehr Zeit im Kapitalismus verbracht als im real existierenden Sozialismus. Das hat natürlich etwas mit mir gemacht. Auch mir geht es darum, das perfekte Leben aus dem Angebotskatalog der freien Marktwirtschaft zusammenzustellen. Ein Leben, das zu dem Menschen passt, für den ich mich halte und für den ich gehalten werden möchte. Die passende Wohnung, die passenden Möbel, die passende Ernährung, die dazu passenden Freunde und den passenden Partner. Alles soll passen. Ich modelliere einen angemessenen Rahmen für ein Leben, das einem in Kinofilmen, Werbespots und den perfekt gefilterten Fotos auf unzähligen Instagram-Profilen versprochen wird. Auch ich kann mich, trotz meiner sozialistischen Vorprägung, dem verführerischen Sog des vorgefertigten Individualismus nicht entziehen. Ich will anders sein, individuell, mich unterscheiden, aber genau genommen mache ich genau das, was alle machen. Mein Leben kreist um Geldanlagen und den richtigen Urlaubsort, um Eigentumswohnungen und darum, welcher meiner Posts die meisten Likes erhält. Welche Überschrift ein Text haben muss, damit ihn in den sozialen Medien möglichst viele anklicken, es geht um Bestsellerlisten und darum, dass die Frisur richtig sitzt. Es geht um Zahlen, Erfolg und Äußerlichkeiten. Ich frage mich viel zu selten, ob dieses uniformierte Glück etwas mit mir zu tun hat. Und dann frage ich mich, was mein Leben verbessert.