1. KAPITEL
Platanias, Kreta
Der Mond stand bereits hoch am Himmel, ein warmer Wind wehte über die Terrasse, raschelte in den Blättern des Oleanders und zerzauste Alexandras Haar. Sie spürte die Arbeit des Tages in ihren Knochen und massierte sich die Nackenmuskeln, dann legte sie ihre Füße auf einen Stuhl und schloss die Augen. Die Pension war ausgebucht, obwohl es bereits September und die Hauptferiensaison fast vorbei war. Aber seit dem letzten Jahr hatte sich „Alexandra’s House“ zum Geheimtipp gemausert. Zu einem Geheimtipp, über den jeder sprach: angesagte kleine Pension mit Herz am Meer, leckeres Essen und Nähkurse für Gäste und jeden, der Lust darauf hatte.
Alexandra stand noch einmal auf, brachte den Gartenschlauch in Position und goss die Kräuter und Blumen. Ihre Mitarbeiterin und beste Freundin Eve war bereits nach Hause gegangen, und die Gäste waren nach dem köstlichen Essen noch auf einen Abendspaziergang in die Nacht verschwunden oder lagen längst in ihren Betten, um am nächsten Tag die Sonne wieder früh begrüßen zu können. Alexandra strich mit der Hand über die Lavendelzweige, durch den Thymian und den Oregano. Zum Schluss zupfte sie ein paar Pfefferminzblätter ab und kaute sie gedankenverloren. Das frische Aroma breitete sich auf ihrer Zunge aus und schien auch ihre Gedanken zu beleben.
Sie hörte eine Tür klappen und kurz darauf das vertraute Schlurfen ihres Großvaters. Angelos hielt sich meistens in seiner kleinen Wohnung auf oder er saß auf einer Bank und blickte aufs Meer. Manchmal bot er Alexandra seine Hilfe in der Pension an, aber sie lehnte meistens ab oder gab ihm nur leichte Aufgaben. Sie wollte, dass er sich schonte. Alexandra gab auch noch den letzten Blumen Wasser, dann ging sie auf die Terrasse und rückte ihrem Großvater einen Stuhl zurecht. Er setzte sich hin und schenkte ihr ein warmes Lächeln.
„Geht’s dir gut?“, fragte sie.
„Natürlich“, antwortete er. Wie jeden Abend. Alexandra konnte sich nicht daran erinnern, dass ihr Großvater je krank gewesen wäre oder sich je beklagt hätte. Das schien allerdings in der Familie zu liegen, auch sie beschwerte sich nie, sollten ihre Sorgen auch noch so groß sein.
„Und dir? Bist du glücklich?“, fragte er.
„Ja, natürlich“, antwortete Alexandra wie immer. Sie machte sich selten Gedanken darüber, ob sie wirklich glücklich war, denn sie hatte Angst, dass die Antwort nicht so ausfallen würde, wie sie es gerne hätte.
Sie lehnte sich zurück und seufzte leise. Schloss die Augen und lauschte auf das sanfte Rauschen der Wellen, die nur wenige Meter entfernt langsam auf den Strand krabbelten.
„Das Leben ist nicht immer leicht, was?“, fragte ihr Großvater plötzlich.
Erstaunt schlug Alexandra die Augen auf und musterte ihn. Es war ungewöhnlich, dass er so etwas sagte. Schon seit Wochen war sie sich nicht mehr sicher, ob er noch in der Lage war, mehr als zwei zusammenhängende Sätze zu sagen, die über Standardfragen und – antworten zum gegenseitigen Befinden hinausgingen. Seit dem Tod seiner Frau hatte Großvater sich immer mehr in seine eigene Welt zurückgezogen, hatte in die Sonne gelächelt, aber manchmal war ihm auch eine Träne über die sonnengebräunte Wange gelaufen und in seinem weißen Bart verschwunden.
„Nein, nicht immer“, sagte sie schließlich. „Aber ich bin froh, dass ich Eve habe. Und dich.“ Alexandra war dankbar, dass sie mit der Arbeit und den Sorgen um die kleine Pension im Schatten einer riesigen Fünf-Sterne-Hotelanlage nicht alleine dastand. Seitdem Eve ihr half, war alles besser geworden. Gemeinsam hatten sie gute Ideen in die Tat umgesetzt, und mittlerweile sah es finanziell auch sehr viel besser aus. Beinahe hatte Alexandra keinen Grund mehr sich zu sorgen.
Warum war sie dann nicht glücklich? In letzter Zeit hatte sie oft einen Druck auf ihren Schultern gespürt. Vielleicht die viele Arbeit? Nein, sie wusste genau, was es war. Das, was sie seit ihrem fünfzehnten Geburtstag versucht hatte zu verdrängen.
Ihr Blick fiel wieder auf den hellgelben Umschlag, der mitten auf dem Terrassentisch lag. Garantiert befand sich darin die obligatorische Geburtstagskarte. Sie war pünktlich angekommen, schon letzte Woche, aber an ihrem Geburtstag hatte Alexandra nicht den Mut oder die Kraft gehabt, sie zu lesen.
Großvater Angelos legte seine warme Hand auf ihre Finger. „Sie liebt dich auf ihre