: Peter Neumann
: Sternstunden Jena 1800 und der Aufbruch in die Moderne
: Pantheon
: 9783641260170
: 1
: CHF 11.40
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: Neuzeit bis 1918
: German
: 256
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Die Geschichte eines philosophischen Aufbruchs
Mit den Ideen der Französischen Revolution gerät nicht nur das alte Europa ins Wanken. Eine ganze Generation von Dichtern und Philosophen beschließt, die Welt neu zu denken. Die führenden Köpfe - darunter die Brüder Schlegel mit ihren Frauen, der Philosoph Schelling und der Dichter Novalis - treffen sich in Jena, um eine 'Republik der freien Geister' zu errichten. Sie stellen gesellschaftliche Traditionen infrage und revolutionieren zugleich auch unser Verständnis von Freiheit und Wirklichkeit - bis heute. Leidenschaftlich erzählt Peter Neumann von dieser ungewöhnlichen Denkerkommune, die den geistigen Aufbruch in die Moderne vorbereitete.

Das Buch ist 2018 unter dem Titel 'Jena 1800' beim Siedler Verlag erschienen. Enthält zahlreiche Abbildungen.

Peter Neumann, geboren 1987, ist promovierter Philosoph. Er lehrte an den Universitäten Jena und Oldenburg und ist seit November 2021 Redakteur im Feuilleton der Wochenzeitung DIE ZEIT. 2018 erschien bei Siedler 'Jena 1800. Die Republik der freien Geister', und zuletzt 'Feuerland. Eine Reise ins lange Jahrhundert der Utopien 1883-2020' (2022). Peter Neumann lebt in Berlin.

Das Wagnis der Freiheit:

Madame Böhmer probt den Aufstand

Man erzählt sich noch viel über sie, hier auf den Straßen in Jena, hinter vorgehaltener Hand, wenn sie über den Markt schlendert. Immer dienstags, donnerstags und samstags, während sich die Bäuerinnen ahnungslos zwischen ihren Körben, Wagen und Buden die Beine in den Bauch stehen und ihre Stimmen über den Platz donnern:Frisches Obst! Frisches Gemüse! Man erzählt sich, Caroline Schlegel habe mit den Jakobinern unter einer Decke gesteckt, damals in Mainz, an der Seite des berühmten Naturforschers und Reiseschriftstellers Georg Forster, als die Stadt, von französischen Revolutionstruppen erobert, kurzerhand zur Republik ausgerufen worden war. Eine Revolution von unten. Die erste Republik auf deutschem Boden.

Die Zeit in Mainz ist auch an Caroline nicht spurlos vorübergegangen. Sie hat am eigenen Leib erfahren, was es heißt, von einer enthusiastischen Zuschauerin der Revolution zur verfolgten Parteigängerin zu werden. Sie kennt den Moment, in dem das eigene Leben aus der Bahn gerät, sich die Ereignisse überschlagen und alles auf dem Spiel steht. Sie weiß, wie es ist, wenn nur die rettende Hand eines Freundes einen Menschen vor dem Abgrund bewahren kann, der ihn in Wirklichkeit schon verschlungen hat. Ihr Name zeugt von dem Schicksalsweg, der jetzt zu ihr gehört: Dorothea Caroline Albertine, geborene Michaelis, verwitwete Böhmer, wiederverheiratete Schlegel.

Noch immer gilt Caroline in Jena als die »berühmte Mdme Böhmer«, die »als Clubbistin mit auf dem Königstein saß«, sie wird argwöhnisch beäugt, als Ausgestoßene behandelt, nicht nur von Karl August Böttiger, dem umtriebigen Publizisten aus Weimar, der für Klatsch und Tratsch wie diesen jederzeit die Ohren gespitzt hat. Erst neulich hat sie auf dem Markt zwei Frauen plappern hören, während sie gerade dabei war, einen Hut anzuprobieren, mit breiter Krempe. Gut stand er ihr, er sollte Schelling gefallen. Im Spiegel hat sie die beiden aus dem Augenwinkel beobachtet, wie sie da, verstohlen hinter ihrem Rücken, mit dem Finger auf sie zeigten. Gerede, das sich in einer Kleinstadt wie dieser nicht vermeiden lässt.

Königstein: Wenn Caroline diesen Namen hört, durchfahren sie die Schrecken jener Tage, als man sie auf der Festung im Taunus gefangen hielt, nachdem ihr Versuch, im April 1793 aus Mainz nach Gotha, zur befreundeten Familie Gotter zu fliehen, misslungen war. Ein preußischer Vorposten hatte sie wenige Kilometer hinter Oppenheim, südöstlich von Mainz, angehalten, visitiert und – nach einem kurzen Blick in den Pass – ins Hauptquartier nach Frankfurt gebracht. Der Name Böhmer war bei den Behörden bekannt. Carolines Schwager Georg Wilhelm hatte eng mit General Custine, dem Anführer der Revolution, zusammengearbeitet. Verhasste Demokraten. Das Reisegepäck wurde konfisziert. Vom Hauptquartier ging es direkt in Haft. Statt der Freiheitsbäume, die man während der Revolutionszeit aufgestellt hat, eine dunkle Zelle. Dabei war Mainz für Caroline die so lang ersehnte Unterbrechung eines allzu beschränkten Lebens gewesen.

Johann David Michaelis, ihr Vater, ist ein hoch angesehener Theologe und Orientialist an der altehrwürdigen Universität zu Göttingen, Hochburg der deutschen Aufklärung;Goethe hätte für sein Leben gern bei ihm studiert. Michaelis bewohnt eines der prächtigsten Häuser der Stadt, in der Prinzenstraße, gleich gegenüber dem Kollegien- und Bibliotheksgebäude. Hier, in der gelehrten Welt, in Gesellschaft all der Koryphäen, die bei ihrem Vater zu Gast sind, wächst Caroline auf. Ständ