Reise in die Vergangenheit
Berlin, 6. Juli 1994. Ein sonniger Sommertag. Vögel zwitschern in den Bäumen und unsere Katze spitzt die Ohren. Ich sitze auf dem Balkon, trinke die zweite Tasse Kaffee und schaue dem vorbeifahrenden 155er-Bus in Richtung S-Bahnhof Pankow nach. Kleine Kinder spielen vor dem Haus, lachen und rangeln herum. Ein Junge zieht einem Mädchen an den Zöpfen. Ich grinse und erinnere mich an meine eigene Schulzeit, in der ich Monika, die direkt vor mir saß, solange an ihrem Pferdeschwanz zupfte, bis sie heulte und die Lehrerin mich vor die Tür schickte.
Mein Gott, denke ich,ist das lange her. Eine Nachbarin und ihr Enkel kommen mit vollen Taschen vom Einkauf zurück. Ich winke ihnen zu. Sie grüßen zurück. Ich habe das Gefühl, im Urlaub zu sein. Weit weg vom Alltag und all den Kleinigkeiten, die noch zu erledigen sind. Zur Bank gehen, das Referat für den nächsten Tag vorbereiten. Und zum Sport und in die Sauna will ich auch noch. Also volles Programm. Mitten in meinen Gedanken hinein öffnet meine Frau die Balkontür und drückt mir die BZ in die Hand.
»Schau mal, das wird dich mit Sicherheit interessieren«, sagt Gabi und bleibt erwartungsvoll im Türrahmen stehen.
Obwohl ich keine Lust zum Lesen habe, hat sie mich neugierig gemacht. Und Neugier ist ein wesentlicher Antrieb in meinem Leben. Als mein Blick in die Zeitung fällt, traue ich meinen Augen nicht. Das Bild eines alten »Bekannten« springt mir entgegen. Ein Foto von Reiner S. Ein alter Fall aus meiner fünfundzwanzigjährigen Vergangenheit bei der Kriminalpolizei. Obwohl ich seit zwei Jahren außer Dienst bin, versetzt mich das Foto und die Überschrift »33-jähriger Sexualtäter erneut festgenommen« schlagartig in eine andere Zeit. Er hat sich äußerlich nur wenig verändert. Die gleichen flach gekämmten Haare, die großen, weit aufgerissenen Augen und das schmale Gesicht. Nur der Schnauzbart ist neu und auch seine verbrecherische Vorgehensweise. Hatte er damals Mädchen zwischen acht und elf Jahren sexuell missbraucht und gequält, so lese ich jetzt, dass er fünf Prostituierte in Berlin vergewaltigt hat. Ich lasse Sport und Sauna sein und gebe mich den Erinnerungen hin …
Berlin-Lichtenberg, Nöldnerstraße. Montag, 24. September 1984
Maike war ein aufgewecktes Mädchen. Zehn Jahre alt, dunkelblondes, halblanges Haar und Brillenträgerin. Sie lachte gern, war strebsam in der Schule und bei allen beliebt. Und sie verstand sich gut mit ihren Eltern. Im Gegensatz zu vielen anderen Kindern in ihrem Alter. Zum Abschied noch ein Küsschen für die Mama. Dann lief sie los. Sie war spät dran und auf keinen Fall wollte sie nach dem Schulklingeln ins Klassenzimmer kommen. Ein einziges Mal war ihr das passiert. Damals war sie vier Minuten zu spät in den Russischunterricht reingeplatzt und alle hatten sie angestarrt. Der Lehrer hatte sie stumm, aber mit einem Stirnrunzeln begrüßt. Und weil es ausgerechnet auch noch ihr Lieblingslehrer gewesen war, hatte sie sich besonders geschämt. Sie war rot angelaufen wie eine Tomate und hatte sich dann still auf ihren Platz gesetzt und ihre Tasche ausgepackt. Das war vor fast einem Jahr gewesen, hat aber bis jetzt ein mieses Gefühl bei ihr hinterlassen. Seitdem ist sie immer pünktlich gewesen.
Auch heute hatte sie es wieder pünktlich geschafft, wenn auch nur auf den letzten Drücker. Jedenfalls saß sie beim Klingeln auf ihrem Platz. Und nur das war wichtig. Irgendwie fand sie den heutigen Tag verdammt spannend. Die Biologielehrerin sprach über das Leben im Wasser. Von den Eintagsfliegen, deren Larven sich im Wasser entwickeln, über dem Wasser häuten und dass ihre Lebenszeit nur zwischen zwanzig Minuten und vier Tagen dauert. Als die Lehrerin erzählte, die Männchen würden kurz nach dem Geschlechtsakt sterben, kicherte die halbe Klasse. Im Deutschunterricht mussten alle einen Aufsatz schreiben. Das Thema: Ein Wochenende mit den Jungen Pionieren. Zwei Stunden hatten sie dafür Zeit. Maikes Fantasie schlug Purzelbäume. Sie kletterte auf Bäume, versteckte sich im Wald und ließ von den anderen suchen. Dann ab in den See und ein Wettschwimmen ver