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Amy
März 1975
Wenn meine Mutter die Geschichte erzählte, begann sie immer mit »Na ja, sie wurde auf dem Rücksitz eines Fremden geboren«, als würde das erklären, warum Wavy nicht normal war. Ich fand, dass das doch jedem passieren konnte. Der respektable Mittelklassewagen der Eltern konnte auf dem Weg zum Krankenhaus einfach liegen bleiben. Aber das war bei Wavy nicht der Fall gewesen. Sie wurde auf dem Rücksitz im Auto eines Fremden geboren, weil Onkel Liam und Tante Val obdachlos waren. Sie fuhren gerade durch Texas, als ihr alter, runtergekommener Van den Geist aufgab. Im neunten Monat schwanger trampte Tante Val in die nächste Stadt, um Hilfe zu holen. Falls Sie je in Betracht ziehen sollten, für eine schwangere Frau den guten Samariter zu spielen, denken Sie daran, dass Sie das hinterher auch wieder sauber machen müssen.
All das erfuhr ich, als ich dienstagabends Moms Buchklub belauschte. Manchmal redeten sie über Bücher, aber meistens tratschten sie. Hier erhieltDie tragische und erbauliche Geschichte der Wavonna Quinn durch meine Mom den letzten Schliff.
Nachdem Wavy auf die Welt gekommen war, hörte Mom fast fünf Jahre lang nichts mehr von Tante Val. Das Erste, was sie danach mitbekam, war, dass Onkel Liam wegen Drogenhandels verhaftet worden war und Tante Val Geld brauchte. Dann wurde Tante Val selbst wegen irgendwas verhaftet, das Mom nicht sagen wollte, und es war niemand mehr da, der sich um Wavy kümmern konnte.
Am Tag nach diesem zweiten Telefongespräch kam Grandma zu Besuch, und hinter verschlossenen Türen stritten sie und Mom über »Du erntest, was du säst« und »Blut ist dicker als Wasser«. Grandma, meine kuschlige, Kekse backende Grandma, brüllte: »Sie gehört zur Familie! Wenn du sie nicht aufnimmst, tue ich es!«
Wir holten sie zu uns. Mom versprach Leslie und mir neues Spielzeug, aber wir waren so neugierig auf unsere Cousine, dass uns das egal war. Wavy war unsere einzige Cousine, denn laut Mom war Dads Bruderschwul. Mit neun und fast sieben dachten Leslie und ich uns Geschichten über Wavy aus, die von den Gebrüdern Grimm hätten stammen können. Ausgehungert, in einem Käfig eingesperrt, unter Wölfen im Wald lebend.
Als Wavy ankam, passte das Wetter zu unseren düsteren Theorien: bedeckt und regnerisch, dazu ein böiger Wind. Es wäre so viel passender gewesen, wenn Wavy in einer schwarzen Limousine oder einer Pferdekutsche angekommen wäre und nicht im beigefarbenen Sedan der Sozialarbeiterin.
Sue Enaldo war eine massige Frau in einem blauen Hosenanzug. Für mich sah sie wie der Weihnachtsmann aus, der mir ein wundervolles Geschenk brachte. Bevor Sue sich eine Regenhaube über ihr sorgfältig frisiertes Dolly-Parton-Haar stülpen konnte, hüpfte Wavy schon mit einer Plastik-Einkaufstüte in der Hand vom Rücksitz. Sie war winzig und bis sie die Tür erreichte, hatte der Regen sie völlig durchnässt.
Leslies Miene entgleiste, als sie unsere Cousine sah, aber ich war begeistert. Als meine Mutter die Tür öffnete, trat Wavy ein und begutachtete ihr neues Zuhause mit diesem ausdruckslosen Blick, den ich lieben lernen und der meine Mutter schon bald zur Verzweiflung treiben sollte. Ihre Augen waren dunkel, aber nicht braun. Grau? Grün? Blau? Ich konnte es nicht genau sagen. Nur dunkel und angefüllt mit diesem langen Blick auf die Welt. Ihre Wimpern und Augenbrauen waren durchscheinend wie ihr Haar. Silberblond klebte es an ihrem Kopf und entließ Wasserströme über ihre Schultern auf die Fliesen des Eingangsbereichs.
»Wavonna, Schätzchen, ich bin deine Tante Brenda.« Da sprach eine Mutter, die ich nicht kannte, mit zu hoher und unnatürlich fröhlicher Stimme, während sie Sue einen ängstlichen Blick zuwarf. »Geht … geht es ihr gut?«
»Wie immer. Sie hat auf der Fahrt keinen Ton gesagt. Die Pflegefamilie, bei der sie diese Woche war, sagte, sie sei so still wie eine Maus.«
»War sie denn mal bei einem Arzt?«
»Schon, aber sie lässt sich nicht anfassen. Sie hat zwei Schwestern getreten und den Arzt geschlagen.«
Die Augen meiner Mutter weiteten sich und Leslie trat einen Schritt zurück.
»Okay, Kleines«, gurrte Mom. »Hast du in deiner Tasche da ein paar Kleider, Wavonna? Komm, wir ziehen dir was Trockenes an, ja?«
Sie hatte wohl erwartet, dass Wavy sich wehren würde, aber als sie nach der Einkaufstüte griff, ließ Wavy einfach los. Meine Mutter machte sie auf und runzelte die Stirn.
»Wo sind ihre restlichen Sachen?«
»Das ist alles«, antwortete Sue. »Als sie zu uns kam, trug sie ein Männerunterhemd. Das sind die Sachen, die die Pflegefamilie für sie zusammengesucht hat.«
»Amy hat bestimmt was, das sie vorerst anziehen kann.«
Sue ging ein wenig in die Knie, um mit Wavy auf Augenhöhe zu sein, und sagte: »Wavonna, ich gehe jetzt und du bleibst hier bei deiner Tante. Verstehst du?«
Die Erwachsenen mochten mit Wavy sprechen, als wäre sie ein Kleinkind, aber mit ihren fünf Jahren machte sie eine ausgesprochen erwachsene Geste: ein knappes Nicken, mit dem sie Sue entließ.
Als Sue weg war, standen wi