: Günter Scholz
: Die Wahrhaftigkeit des großen Betrugs
: Lehmanns Media GmbH
: 9783965430501
: 1
: CHF 8.90
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: Philosophie
: German
: 150
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Ist der Mensch womöglich eine Sackgasse der Evolution, der die Götter als Ausflucht aus dieser Zwickmühle braucht? Denn alle bisherigen Zivili­sationen haben auf Götter nicht verzichten können - die Ägypter nicht auf Osiris, die Sumerer nicht auf Ischtar, die Hellenen nicht auf Zeus... und die Christen letztlich nicht auf ihren Mensch gewordenen Gott Jesus Christus. Sind Religionen im Allgemeinen und das Christentum im Besonderen also nichts anderes als heute noch erhaltene Relikte einer früheren Entwick­lungsstufe des menschlichen Denkens, das zwar selbst Teil dieser Welt ist, jedoch durch seine Entwicklung dazu beitrug, die Welt, sich selbst und seine Rolle in ihr zu reflektieren? Die Strahlkraft des Sterns über Beth­lehem allerdings ist inzwischen am Verblassen, der magische Kompass, der einst helfen mochte, aus dem Jammertal herauszufinden, ist im Laufe der Jahr­hunderte durch ein Navigationssystem nüchternen Denkens und notwendi­gen Wissens ersetzt worden: die Evolution entlässt ihre Kinder. Und die suchen und fragen hartnäckig und bohrend nach der Wahrhaftigkeit im Betrug. Nach seinem im letzten Jahr bei Lehmanns media erschienenen Erstling 'Anleitung zur vergeblichen Gottessuche' bietet Günter Scholz mit seinem neuen Buch ein weiteres provokantes Lesevergnügen zum Thema: wer bin ich, wer sind wir?

Die Scheintür


So bezeichnen die Ägyptologen eine auf die Wand eines Grabes gemalte oder sogar als Relief gearbeitete Tür, durch die der Verstorbene, dessen Mumie in diesem Grab liegt, aus der jenseitigen Welt in seine altvertraute zurückkehren kann, um sich mit seinem Körper erneut zu vereinigen und wieder in sein neues himmlisches oder göttliches Zuhause zurückzukehren wie ein alter Mensch, der aus seiner Residenz am ruhigen Park noch einmal in seine noch immer vertraute Heimat einen Ausflug macht, eine sentimental journey. Man ist versucht zu sagen, dies sei eine symbolische Tür – und irrt damit gründlich. Denn: Wir haben es hier mit einer tatsächlichen Tür zu tun. Doch ist sie nicht nur auf den gewachsenen Fels der Grabinnenwand aufgemalt, und durch diesen festen Stein kann doch kein Mensch hindurchschreiten? Also doch Scheintür, die eine Türöffnung nur vorspielt? Weit gefehlt! Als Lazarus aus seinem Grab aufstand, die Totentücher und den bereits deutlichen Verwesungsgeruch abschüttelte, da war diese in den Evangelien geschilderte Überfahrt ins Totenreich mit Rückfahrkarte nicht das Nahtoderlebnis eines Scheintoten, nein, hier geschah etwas, das sich die alten Ägypter mit ihren Mumien und Gräbern, mit ihrem Totenkult und Zauber noch nicht einmal erträumt hatten: Der Ka des Toten – wenn man so will seine Seele, seinalter ego – konnte zwar durchaus herumspuken, die Lebenden ärgern und Schabernack treiben, doch von einer Mumie, die ihre Tücher abwickelt und als Mensch aus Fleisch und Blut durch die Weltgeschichte spaziert, nein, über solch einen Vorfall gibt es keinen Bericht (außer in dem Hollywood-Film „The Mummy“ mit Boris Karloff als Lazarus, Verzeihung: als Mumie).

Besucht ein Tourist heute das alte Ägypten, seine Gräber und Tempel, sein in Museen konserviertes Leben – seine „Kultur“ –, dann steht er beeindruckt staunend vor den vielen bunten Bildern und Bildchen – heilige Zeichen, Hieroglyphen, für die Ewigkeit auf ewigen Fels gemeißelt und gemalt –, die mal Schrift, mal Abbildung, mal beides sind mit fließendem Übergang. Und wenn dann der Fremdenführer die Götterbilder erklärt, die Texte übersetzt und erläutert, den jeweiligen geschichtlichen Hintergrund schildert, angereichert mit (lustigen) Anekdoten, von denen in der Geschichte dieses schreibfreudigen Volkes kein Mangel herrscht, dann findet unser heutiger Ägyptenreisender das alles höchst interessant, ist beeindruckt – nein, ist er wirklich, richtig beeindruckt – und versteht – nichts! Doch dieses Nichtverstehen, dieses Laufen gegen eine Wand, dieses Einfach-nicht-begreifen-können, das teilt unser unbedarfter Reisender selbst mit den Fachgelehrten, die sich mit diesem alten Volk beschäftigen, von dem nur noch Ruinen und Texte übrig sind, sehr viele Texte, die aus einer uns fremden Welt, aus einer magischen Welt berichten. Damit ist das Entscheidende gesagt: Der Mensch des alten Ägypten lebte in einer magischen Welt! Er hat sich selbst, seine Mitmenschen, seine Götter, sein tägliches Leben, eben auch seinen Tod völlig anders erlebt als wir das heute tun. Weil er in einer anderen Welt lebte! Man mag einwenden: Essen und trinken, Sex und Liebe, Angst und Schmerz – alle Grundbedürfnisse und Reaktionen eines lebendigen Menschen waren doch damals die gleichen wie heute. Stimmt! Und doch waren sie ganz anders, weil sie anders erlebt wurden. Thomas Mann stellt sich in der Vorrede zu seinem Josef-Roman – „Tief ist der Brunnen der Vergangenheit“ – genau diese Frage und kommt zu dem Schluss, dass es keinen Unterschied zwischen dem heutigen Menschen und dem damaligen geg