PROLOG
15. Oktober 1483
»Muß eine Maid ein schönes Antlitz haben?
Muß sie das Aug mit Anmut laben?
O nein!
Sie muß das Leben eines Mannes versüßen
Und freudig seine Leidenschaft begrüßen!«
Übermütig sang Sir Thomas Tidewell die Ballade, schrie sie mit lauter, klarer Stimme dem kühlen Horizont entgegen, der sich allmählich verdunkelte. In seiner Trunkenheit lachte er so heftig, daß er im Sattel seitwärts schwankte. Sicher wäre er vom Pferd gefallen, hätte Jon von Pleasance, der neben ihm ritt, nicht hastig eine Hand ausgestreckt, um ihn festzuhalten. Jon, fast so betrunken wie Thomas, schlang einen Arm um die Schultern seines Freundes. Mühsam hielten sie ihr Gleichgewicht auf den beiden Hengsten und sangen gemeinsam den zotigen Refrain.
»Sie braucht kein schönes Gesicht,
Auch Geist und Anmut nicht.
Sie muß nur die Lust eines Mannes stillen
Und willig sein Schwert umhüllen!«
Als Jon sich aufrichtete, drohte Thomas erneut aus dem Sattel zu stürzen. Diesmal packte ihn der Anführer der Gruppe, der seine Position geerbt hatte – Tristan de la Tere, zweiter Sohn des Grafen Eustace von Bedford Heath. Freundlich grinste Jon ihn an. Tristan hob die dunklen Brauen, erwiderte das Lächeln und schüttelte resignierend den Kopf. Die drei kamen soeben aus London, wo Tristan in langwierige Diskussionen über die Thronbesteigung Richards III. verwickelt worden war. Konnte man das Ereignis als gesetzwidrige Machtergreifung betrachten? Oder als legitim und notwendig, weil der rechtmäßige Erbe, ein zwölfjähriger Junge, außerstande war, ein Land zu regieren, das die »Rosenkriege« – wie die Poeten sie nannten – verwüstet hatten?
Doch es gab noch andere Schwierigkeiten. Jahrelang hatten verschiedene Mitglieder des Hauses York um die Macht gekämpft und kleinere Scharmützel innerhalb der großen Kriege ausgefochten. Tristans Familie war es gelungen, sich aus den internen Konflikten herauszuhalten. Schon als blutjunger Bursche hatte er für König Edward IV. gegen den »Königsmacher« Warwick gekämpft. Während der Regentschaft Edwards herrschte eine gewisse Ruhe in England. Aber 1483, nach seinem Tod, hatte Richard, Herzog von Gloucester, seinem Neffen, Edwards Sohn und Erben, die Krone entrissen. Nur zu gut wußte Tristan, daß neue Probleme auftauchen würden, und diesmal konnte er sich nicht heraushalten.
»Sing mit, Tristan!« verlangte Jon. »Du kennst doch den Text!«
»Ja, den Text schon«, bestätigte Thomas und rückte seinen Hut zurecht, »aber nicht das Gefühl. Ah, diese schönen Damen, das süße, weiche Fleisch, das wir in Mr. Walcox' Taverne genossen!« Anklagend zeigte er mit einem Finger auf Tristan. »Und du wolltest keine einzige anrühren. Schande über dich, mein Lehnsherr! Vor der Hochzeit warst du ein richtiger Teufel. Keiner wußte seinen Becher Ale schneller zu leeren als du und die hübschesten jungen Dinger zu verführen – mochten es feine Damen oder Huren gewesen sein.«
Wieder zog Tristan die Brauen hoch. Schweigend musterte er seine Freunde, ein schwaches Lächeln umspielte seine Lippen. Zahlreiche Tage im Sattel, Turniere und die wilden Machtkämpfe zwischen den Häusern York und Lancaster hatten diese jungen Männer gestärkt, ihre Muskeln und Herzen gestählt.
Auf Tristans Schultern lastete eine schwere Verantwortung. Sie alle hatten in der Domäne seines Vaters das Licht der Welt erblickt. Jederzeit konnte Graf Eustace ein tausendköpfiges Gefolge zu den Waffen rufen. Bis zum Horizont erstreckten sich seine Felder und Weiden, viel weiter, als das Auge reichte. Die Wolle, die auf seinen Farmen erzeugt wurde, war sogar jenseits des Kanals berühmt.
Eines Tages würde Tristans älterer Bruder den Titel des Vaters und dessen Stellung erben. Aber Tristan hatte sich, im Gegensatz zu vielen jüngeren Söhnen, nicht der Kirche zugewandt und statt dessen große Bedford Heath-Ländereien erhalten. Eustace hatte alle seine Leibeigenen freigelassen, doch Tristan durfte auf die Treue vieler hundert Pächter und Landedelmänner wie Thomas und Jon bauen.
Schon als junger Bursche war er sich seiner Pflichten bewußt gewesen. Er trank zwar gern mit seinen Freunden, gestattete sich aber keinen Vollrausch. Ebensowenig konnte er die Politik außer acht lassen und vergessen, daß die Loyalitäten den Männern manchmal aufgezwungen, manchmal aus freien Stücken gewählt wurden, aber stets einen hohen Preis verlangten.
Während di