Tränen liefen über Corinnas Wangen. Sie beachtete es nicht.
»Alle Schulferien habe ich bei Großmutter verbracht. Meine Eltern waren oft wütend, aber ich habe mich immer durchgesetzt. Ich wollte nicht nach Afrika oder auf eine fremde Insel. Mein Ferienparadies war hier, hier auf dem Moorhof. Wenn ich aus dem Zug stieg, stand die Kutsche mit dem alten Johann vor dem Bahnhof. Und dann ging es über die Heide, und ich durfte kutschieren.«
Sie saß auf der brüchigen Mauer, die Hände spielten in den Pflanzen, die zwischen den Steinen wuchsen. Sie starrte auf das Wasser, das über den Sand rollte und wieder zurückwich. Der Himmel spiegelte sich im Meer, aber das sah sie nicht.
Sie war wieder das junge Mädchen, das die Stufen zum Haus hinaufrannte und die Haustür aufstieß.
»Großmama, ich bin da.«
Und immer saß die Großmutter in ihrem Sessel, streckte die Arme aus und strahlte über das ganze, liebe Gesicht.
»Corinna, mein Liebling, wie schön, daß du da bist.«
Corinna spürte sogar die Arme, die sich um sie legten, spürte die Wange der Großmutter an ihrem Gesicht. Die Erinnerung war so stark, daß das gewohnte Glücksgefühl sie überströmte.
»Tage, die sich wie Perlen aneinander reihten«, flüsterte sie.
Hans Deiters war froh, daß von ihm keine Antwort erwartet wurde.
»Bei Großmutter wurde ich mit Liebe eingehüllt, hier bekam ich das, was ich das ganze Jahr entbehrte. Oh, warum bin ich nur in den letzten Jahren fortgeblieben? Warum war mir meine Ausbildung und alles andere wichtiger? Jetzt ist sie tot, und ich kann ihr nie mehr sagen, wie lieb ich sie hatte.«
Hans räusperte sich. Er saß auf der Mauer, die rechts von dem kleinen Törchen stand, das Törchen hing windschief in den Angeln und quietschte entrüstet, wenn man es öffnete. Hans hatte sich von seiner Überraschung noch lange nicht erholt. Ja, er war geradezu erschlagen. Aber auf wunderbare Weise überrascht.
Er kannte Corinna Bieger jetzt ein halbes Jahr, besonders verliebt war er eigentlich nicht in sie gewesen. Sie sah gut aus, war ein lustiger Kamerad, aber sie war ihm zu prüde, andere Mädchen machten es ihm leichter. Aber ihre spröde Art war es wohl, die ihn reizte.
Als sie vom Tod ihrer Großmutter erfuhr, traf er sie völlig aufgelöst. Voll Mitleid hatte er sie in die Arme geschlossen, und zum ersten Mal hatte er in dem Augenblick Zärtlichkeit für sie empfunden. Sie hatte sich in seine Umarmung hineingeschmiegt, hatte sich trösten lassen.
Aber zur Beerdigung war er nicht mitgefahren. »Das ist nicht mein Ding«, hatte er abgewehrt. »Ich gehe nie auf einen Friedhof.«
Sie war allein gefahren, und er hatte nicht mal ein schlechtes Gewissen gehabt.
Aber gestern abend hatte sie ihn angerufen. Ganz aufgeregt. »Stell dir vor, Hans. Großmutter hat mich als Erbin für ihr Haus eingesetzt. Mich, mich ganz allein. Und einen lieben, lieben Brief hat sie mir dazu geschrieben.«
Das hatte ihn wachgerüttelt. Deswegen hatte er sich heute morgen in aller Frühe in seinen alten, klapprigen Wagen gesetzt und war hierher gefahren.
Nicht, daß er sonderlich Großes erwartet hatte. An eine Kate hatte er gedacht, an ein kleines Häuschen, einem Gartenhäuschen ähnlich.
Nicht im Traum war ihm in den Sinn gekommen, was für ein Besitz der Moorhof war.
Hans lag der Länge nach auf der Mauer, hatte den Kopf in die Hand gestützt und sah durch die verwitterten Bäume zum Haus hinüber. Aus grauem Sandstein war es gebaut, es wirkte auf Hans eindrucksvoll, ja, imponierend. Die Fenster waren schmal, bleiverglast, aber die blauen Fensterläden hoben die Strenge auf. Und das tief herabgezogenen Reetdach vermittelte etwas wunderbar Beschützendes, besser konnte Hans es nicht ausdrücken.
Es war kein Gartenhaus. Es war ein Besitz. Und was für einer. Und als er mit ihr ins Haus ging, ja, ja, dann hatte es ihn förmlich umgehauen.
Von Möbeln verstand er nicht viel. Aber daß diese Möbel, die Teppiche wertvoll waren, das sah sogar er.
Und n