1. Gedankenkarussell
Mit einem Ruck fuhr Keyra aus dem Schlaf hoch. Kalter Schweiß bedeckte ihren Körper und ihr Herz raste. Sie konnte sich nicht erinnern, was sie geträumt hatte – nur, dass sie schreckliche Angst gehabt hatte. Sie fuhr sich mit der zitternden Hand über die Stirn. Irgendetwas mit einer Frau, die furchtbar geschrien hatte, und einem schwarz gekleideten Mann … Nein, sie konnte sich nicht erinnern – und eigentlich wollte sie es auch nicht.
Keyra war kalt, und ihr Mund war so trocken wie Löschpapier. Sie stand auf und tappte in die Küche, um einen Schluck Wasser zu trinken. Draußen dämmerte es bereits.
Da kann ich einmal ausschlafen, weil Feiertag ist, und dann weckt mich so ein blöder Albtraum, dachte Keyra missmutig. Eigentlich war es nicht verwunderlich, dass sie Albträume hatte – nicht nach den Ereignissen der vergangenen Tage. Wenn sie daran dachte, dass sie vor zwei Tagen auf dem Wilhelmsbader Fest im Jahr 1832 herum gestolpert war und eine seltsame Diebin gejagt hatte, fragte sie sich, ob sie auf dem besten Weg ins Irrenhaus war.
Natürlich hatte sie niemandem davon erzählt. Wem hätte sie auch etwas sagen sollen? Lou vielleicht? Ihre beste Freundin hätte sie umgehend zu ihrer Mutter in die Praxis geschleift und da auf die Couch gesetzt.
Und ihr Vater? Der hätte sie zuerst merkwürdig angesehen und dann das Problem totgeschwiegen. Das war seine Art, mit Problemen umzugehen: Aussitzen und Outsourcing. Jemand anderer würde sich darum kümmern, jemand, der kompetenter war als er.
Normalerweise gab Keyra ihrem Vater in dieser Hinsicht recht: Probleme sollte man den Profis überlassen, die sich damit auskannten. Doch in diesem Fall würde die Problemlösung in der Diagnose ‚Nervenzusammenbruch‘ bestehen, da war sie irgendwie ziemlich sicher. Ihre Bio-Lehrerin, Frau Müller-Wackernagel, hatte vor zwei Jahren plötzlich im Unterricht angefangen zu weinen, weil sie glaubte, ihre tote Oma im Klassenraum zu sehen. Damals war sie für mehrere Wochen mit eben jener Diagnose beurlaubt gewesen. Keyra fragte sich, ob Frau Müller-Wackernagel vielleicht wirklich etwas gesehen hatte – denn wenn Zeitreisen möglich waren, warum sollte es dann keine Geister geben?
Nachdenklich trat Keyra ans Fenster und spielte mit dem kleinen Kristallschlüssel, der an einer Silberkette um ihren Hals hing. Sie war sich eigentlich ziemlich sicher, dass sie nicht verrückt war. Sie war wirklich in die Vergangenheit gereist, und irgendwie hing das mit diesem Schlüssel zusammen, der ihr den Weg dorthin und auch wieder zurück geöffnet hatte. Deswegen war der einzige Mensch, mit dem sie über das Geschehene sprechen konnte, diejenige, von der sie den Schlüssel bekommen hatte: Clara Schlosser, ihre Großmutter.
Am liebsten wäre sie vorgestern, nachdem sie wieder heil in Wilhelmsbad angekommen war, direkt zu ihr gefahren. Sie brauchte Antworten. Doch das war nicht möglich gewesen: Zuerst hatte sie zurück in die Schule gemusst. Und als der Unterricht beendet war, wartete ihr Vater Rory vor der Otto-Hahn-Schule auf sie. Er hatte ein schlechtes Gewissen wegen ihres Streits und weil er ihren Geburtstag nicht mit ihr gefeiert hatte. Deswegen schob er ihre Vespa kurzerhand auf die Ladefläche seines Jeeps und führte sie aus: nach Frankfurt zum Sushi-Essen. Keyra liebte Sushi. Doch an diesem Abend hätte sie lieber Ravioli aus der Dose gegessen, um noch Zeit für einen Besuch bei ihrer Großmutter zu haben. Aber das konnte sie Rory ja schlecht sagen.
Keyra seufzte und ging zurück in ihr Zimmer. Im Vorbeilaufen strich sie mit der Hand über das kleine Holzkästchen mit den Rosenverzierungen, das sie auf ihren Schreibtisch gestellt hatte. Dann kuschelte sie sich wieder in ihr noch warmes Bett. Doch der Schlaf wollte sich nicht mehr einstellen. Ihre Gedanken fuhren Karussell.
Auch gestern hatte sie es nicht geschafft, nach Langen-Bergheim zu Clara zu fahren. Sie hatte einen langen Schultag: zehn Stunden, die letzten beiden davon Orientierungslauf, bei denen sie und ihre Partnerin sich hoffnungslos im Waldgebiet bei den Steinheimer Steinbrüchen verlaufen hatten und erst weit nach der vorgesehenen Zeit zurück auf den Parkplatz kamen. Ihr Lehrer war bereits ziemlich in Sorge gewesen. Die Note für diesen Tag würde jedenfalls nicht sehr gut ausfallen.
Abends wollte Keyra dann zu Clara fahren, doch sie hatte den Geistesblitz, vorher anzurufen. Clara war nicht da, nur die Mailbox m