1. Der Traum
Das Herz pochte Keyra so heftig in der Brust, dass sie meinte, es würde ihr gleich herausspringen. Sie wagte es nicht, stehen zu bleiben, obwohl sie bereits fast bis zur Erschöpfung gerannt war. Doch sie durfte die Gestalt, die vor ihr über das Kopfsteinpflaster in den nächtlichen Straßen zwischen den Fachwerkhäusern eilte, nicht aus den Augen lassen. Anfangs war die Person, die in einen braunen Kapuzenmantel gehüllt war, noch mindestens hundert Meter entfernt gewesen. Doch Keyra hatte aufgeholt. Es war wichtig, sie zu erreichen. Kaum zwanzig Meter trennten sie jetzt noch von der Verfolgten. Keyra war sich sicher, dass es sich um eine Frau handelte, auch wenn sie nicht wusste, woher sie diese Gewissheit nahm. Der Mantel verhüllte die Frau fast komplett. Vielleicht lag es an der Gewandtheit, mit der sie sich bewegte, an den geschmeidigen Schritten.
Nun wandte sich die Frau plötzlich im Laufen um, sodass Keyra ihr Gesicht sehen konnte. Hellblaue Augen, ein blasser Teint, ein breiter Mund mit vollen Lippen, blonde, wellige Haare. Keyra geriet vor Überraschung ins Stolpern. Es war das Gesicht ihrer Mutter.
Die Frau drehte sich um und rannte weiter. Keyra brauchte einige Sekunden, um sich zu fassen. Dann nahm sie die Verfolgung wieder auf. Keuchend holte sie immer weiter auf, bis ihre Mutter nur noch wenige Schritte vor ihr war.
Da bog ihre Mutter unvermittelt nach links in eine Seitenstraße ab. Keyra folgte ihr einige Sekunden später – und blieb wie erstarrt stehen. Die Straße endete nach etwa drei Metern vor einer Hauswand. Und die Sackgasse war leer.
Eine hölzerne Tür befand sich in der Mitte der Wand, der Keyra nun gegenüber stand. Sie rang nach Atem, so sehr hatte die Verfolgungsjagd sie angestrengt. Ihr Mund war trocken wie altes Papier, als sie sich zögernd der Tür näherte. Ihre Mutter musste hindurchgegangen sein, gerade eben. Sie strecke die Hand aus und drehte den metallischen Knauf. Doch die Tür war verschlossen.
Keyra ließ den Griff los, als hätte sie sich daran verbrannt. Tränen der Enttäuschung brannten in ihren Augen, und ein deftiger Fluch, den ihre Großmutter Clara wohl als wenig damenhaft bezeichnet hätte, wollte über ihre Lippen kommen. Doch er blieb ihr im Hals stecken. Sie hörte einen leisen, singenden Ton, d