Der Traum von der Wohnhöhle
In seinen Pariser Exiljahren wählte Walter Benjamin die ehrwürdige Bibliothèque Nationale als zweite Heimstatt. Dort ließ sich der Philosoph nieder, um sein legendäresPassagen-Werk zu schreiben. Die Lesesäle verwandelten sich für Benjamin gleichsam in einen privaten Schutzraum, in dem er sich, wie er im März1934 Theodor W. Adorno nach Amerika schrieb, »wohnlich einrichtete«. Die Fotografin Gisèle Freund hielt damals in Porträtserien fest, wie der Freund Walter Benjamin selbstvergessen seine Studien an einem riesigen Tisch betrieb, in Büchern blätterte und Notizen anfertigte. Der deutsche Exilant dehnte wegen seiner prekären und wechselnden Privatunterkünfte den Aufenthalt in der Bibliotheks-Wohnung so weit wie möglich aus. Dort legte er die Wurzeln der modernen europäischen Kultur frei, dort erforschte er die öffentlichen Plätze und die luxuriös ausgestatteten Geschäftspassagen, die ihm ein Bild von den Anfängen des Kapitalismus vermittelten.
Die Lektürestunden in der Bibliothèque Nationale gewährten dem Exilgelehrten schließlich auch tiefere Einblicke in die intimen Wohngemächer desfin de siècle, die er selbst noch in seiner Berliner Kindheit erlebt hatte. Benjamin war fest davon überzeugt, die »Urgeschichte des19. Jahrhunderts«, zu der er auch die gründerzeitlichen Wohnungen zählte, könne er einzig im selbstgewählten Pariser Exil schreiben. Dabei interessierte ihn auch jener bürgerliche Wohnkosmos, in den er Ende des19. Jahrhunderts selbst hineingeboren worden war und den er nun, zurückgezogen in die Bibliotheksgemächer, mit schonungslosem Blick auf jedes noch so kleine Detail in den Aufzeichnungen zumPassagen-Werk festhielt. Gebannt war Benjamin von jenen träumerischen Phantasien, in denen das zu Ende gegangene Jahrhundert so sehr geschwelgt hatte:
Das neunzehnte Jahrhundert war wie kein anderes wohnsüchtig. Es begriff die Wohnung als Futteral des Menschen und bettete ihn mit all seinem Zubehör so tief in sie ein, dass man ans Innere eines Zirkelkastens denken könnte, wo das Instrument mit allen Ersatzteilen in tiefe, meistens violette Sammethöhlen gebettet, daliegt. Für was nicht alles das neunzehnte Jahrhundert Gehäuse erfunden hat: für Taschenuhren, Pantoffeln, Eierbecher, Thermometer, Spielkarten – und in Ermangelung von Gehäusen Schoner, Läufer, Decken und Überzüge.
Bis insfin de siècle hinein lebten die Menschen im »Gehäuse«, und diese Wohnform verstand Benjamin