1.3. Vor großen Lebensübergängen – Chance der Todesnähe
Ein Drängen nach Versöhnung ist besonders vor großen Veränderungen im Leben spürbar. Die Beweggründe sind vielfältig: Man möchte »mit sich im Reinen« und unbeschwert von alten Lasten (etwa nach einer Scheidung, nach einem Berufswechsel) in die neue Lebensetappe einsteigen. Oder es ergibt sich eine neue Konstellation innerhalb eines Konfliktfeldes: ein Mediator, dem man vertrauen kann; ein Kind, das geboren wird; eine gesundheitliche oder anderswie existenzielle Veränderung beim einen oder dem anderen Konfliktpartner. Herzen werden weich. Plötzlich ist eine Vergebungsbereitschaft da, ein Hoffnungsraum öffnet sich. Oder man hat aufgrund eines Wohnortswechsels oder einer Krankheit vertieft Zeit, über sich und alles nachzudenken.
Am meisten aber bewegt die Todesnähe zu Versöhnung und Vergebung. Der Theologe Dietmar Mieth schrieb im Buch über das Sterben seiner Frau (2019): »Sterben ist eine Vergebungszeit. Liebe ein Vergebungsmotiv. Leiden eine Vergebungsgelegenheit. Schwindende Zeit ist die Antreiberin« (S. 133). In unserer Studie äußerten 42 von 50 Patienten, dass die Todesnähe sie zur Versöhnung und Vergebung antreibe. Die ablaufende Zeit drängt, Ungelöstes und Unerlöstes in der Seelentiefe drücken. Die Erschöpfung relativiert den Groll und ermöglicht Vergebung, weshalb bisweilen auch von einem Erschöpfungsverzeihen gesprochen wird (vgl. Herzog 2017, S. 23). Und dennoch erkannten wir in unserer Studie nur gerade bei einem Patienten ein Erschöpfungsverzeihen. Alle anderen waren genau bei diesem Thema wach oder zeigten inmitten aller sonstiger Schläfrigkeit eindeutige Reaktionen. Einige schienen auf Versöhnung zu warten.
Eine Sehnsucht nach Frieden erwacht genau in Todesnähe. Schwelende Familienkonflikte, ungeklärte Rechtsfragen, die Ungewissheit um ein am Sterbebett nie gegenwärtiges Kind, die Last einer Verfehlung oder eines jahrelangen Schweigens treiben um. Hinzu kommt die seelische Wucht von Themen, die oft erst in Todesnähe eine Chance haben, überhaupt angeschaut zu werden. Der verbreiteten Zurückhaltung – man will einem Sterbenden nichts Belastendes mehr zumuten – steht eine innere Notwendigkeit gegenüber: Ohne Wahrheitsfindung kann das Leben oft nicht abgeschlossen werden. In all den Jahren meiner Tätigkeit mit Krebskranken und Sterbenden wurde ich genau deshalb, weil Sterbende aus irgendeinem Grund nicht sterben konnten, an viele Betten gerufen. Und bei Vorträgen im Rahmen von Hospizgesellschaften erhielt ich immer wieder Rückmeldung von Sterbebegleitern und Sterbebegleiterinnen, wonach sie Ähnliches beobachteten. In unserer früheren Studie »Dying is a Transition« – deutsch: Hinübergehen – (vgl. Renz et al. 2018) waren Familienprozesse intensiv und wichtig.21 Und doch waren die Angehörigen in der Mehrheit der Fälle irgendwann nicht mehr speziell im Fokus der Sterbenden22, wohl aufgrund von Bewusstseinsveränderungen. Genau jene Sterbenden aber, bei denen große Sorgen um die Kinder oder Familienprobleme im Vordergrund standen, bildeten eine Ausnahme: Sie blieben bis zum Schluss wach und für das Thema ansprechbar.23 Als wären sie nicht frei zu sterben.
Den Gesprächen in Todesnähe wohnt eine große Chance inne: Sterbende befi