Kapitel 1
Wuppertal, Anfang August
Hannah Landsberg stand am Fenster ihres Zimmers unter dem Dach und starrte auf die Straße hinab.
Konnte er es wirklich sein? War das möglich?
Sie spürte, wie sich die Härchen auf ihren Armen aufstellten, wie sie, trotz der Hitze draußen und im Haus, eine Gänsehaut überlief. Die Figur, der schlaksige Gang, die dunklen Locken … alles stimmte, und dennoch war es schlichtweg unmöglich. Auch er war fünfzig Jahre älter geworden inzwischen, auch vor ihm hatte die Zeit nicht haltgemacht.
Sie schüttelte den Kopf. Wie dumm sie war!
Derjenige, der da unten die steile Straße hinunterlief, vorbei an den Vorgärten der Nachbarschaft, war ein junger Mann und hatte mit ihr und ihrer Geschichte nichts zu tun.
Immer noch fröstelnd schlang Hannah die Arme um sich. Das ärmellose Sommerkleid schien auf einmal viel zu kalt zu sein. Sie versuchte vergeblich, die schlimmen Erinnerungen abzuschütteln, die dieser Mann auf der Straße bei ihr ausgelöst hatte: Bilder von steilen, staubigen Gassen, durch die sie atemlos floh, verfolgt von einer grölenden Männerhorde; Bilder von alten Frauen oder Greisen, die neugierig, lachend, rauchend aus den Fenstern hingen und die Verfolgungsjagd als einen Scherz ansahen, die glühende Sonne, der Schweiß, der Schmutz, die meckernden Ziegen, die ihr den Weg versperrten, der durchdringende, Übelkeit erregende Duft von Thymian, ein Gewürz, das sie niemals mehr verwenden würde … Diese Bilder, unauslöschlich eingebrannt in ihre Seele, hatten ihr halbes Leben geprägt, sie nie wieder losgelassen, waren bis heute nächtelang ihre treuen Begleiter. Und nun, in dieser nüchternen westdeutschen Stadt, in einer Straße, die außer einem gewissen Gefälle keinerlei Ähnlichkeit mit ihrem damaligen Leidensweg hatte, suchten sie Hannah erstmalig mitten am Tage heim.
Erschrocken zuckte sie zusammen, als es hinter ihr leise an der Tür klopfte. Es war Doro, nur Doro, wer denn sonst. Brigitte beliebte es ja immer noch, mit dem Rollstuhl durch die Gegend zu fahren oder vielmehr: sich fahren zu lassen. Sie würde niemals die Treppe hochsteigen.
Doros liebes Gesicht, gesund, braun gebrannt und voller Sommersprossen, strahlte Hannah an. »Ich habe Kaffee gekocht und im Garten den Tisch gedeckt. Kommst du?«
Hannah drehte sich um und lächelte. Nach der Plackerei mit den Umzugskisten kam ihr eine Erfrischung recht. »Ich bin gleich so weit.«
»Es gibt warme Pförtchen mit Kirschen und Eis, also warte nicht zu lang.« Doro ließ den Blick über Taschen und leere und halb gepackte Koffer schweifen, die überall im Zimmer herumstanden oder auf dem Sofa lagen. »Hannah, Liebes, sag doch was, ich kann dir doch helfen!«
»Du hast selbst genug Arbeit mit deinen Koffern, Doro. Außerdem sollst du uns nicht so verwöhnen! Brigitte kann auch mal was tun!«
»Bald habe ich keine Gelegenheit mehr, euch zu verwöhnen«, sagte