: Daniel Hell
: Lob der Scham Nur wer sich achtet, kann sich schämen
: Verlag Herder GmbH
: 9783451816864
: 1
: CHF 7.90
:
: Lebensführung, Persönliche Entwicklung
: German
: 240
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Weil Scham zumeist mit sozialer Schande oder narzisstischer Kränkung gleichgesetzt wird, genießt sie gemeinhin einen schlechten Ruf - doch zu Unrecht, wie Daniel Hell aufzeigt: Wir sollten sie als 'Türhüterin des Selbst' achten und schätzen lernen. Der renommierte Psychiater und Psychotherapeut Hell gibt der Scham wieder diejenige Bedeutung zurück, die ihr im menschlichen Leben zukommt.

Daniel Hell, geboren in der Schweiz, war von 1991-2009 Professor für Klinische Psychiatrie und Klinikdirektor an der Psychiatrischen Universitätsklinik Zürich. Seit seiner Emeritierung als Ordinarius für Klinische Psychiatrie an der Universität Zürich führt er an der Privatklinik Hohenegg eine eigene psychiatrisch-psychotherapeut sche Praxis und engagiert sich in der Stiftung Hohenegg sozialpsychiatrisch.  Als Autor von Fach- und Sachbüchern sowie Medienbeiträgen ist er weit über sein Fachgebiet hinaus bekannt.

1. Scham als historisch konstante ­Herausforderung

Eine kurze Kulturgeschichte der Scham

Es wird oft diskutiert, ob Schamgefühle in den letzten Jahrhunderten zu- oder abgenommen haben. Auch die Möglichkeit, dass man sich in der Neuzeit für anderes schämt als etwa im Mittelalter oder gar bei schriftlosen Stammesvölkern, wird dabei zu Recht in Erwägung gezogen. Fest steht, dass bisher in unserer Welt keine Bevölkerung gefunden wurde, in der Schamreaktionen fehlen. Auch geschichtlich finden sich keine Hinweise auf vergangene Kulturen, die frei von Scham gewesen sind. Die gesellschaftlichen Strukturen mögen sich noch so stark unterschieden haben – Scham fehlte in keiner von ihnen. Zwar finden sich in einzelnen Kulturen subkulturelle Gegenbewegungen, die Schamlosigkeit als Mittel einsetzen, um herrschende gesellschaftliche Normen bloßzustellen und zu bekämpfen. Ein drastisches Beispiel dafür ist die philosophische Schule der Kyniker in der griechischen Antike, zu dessen bekanntesten Mitgliedern Diogenes gehörte. Diogenes wohnte nicht nur in einer Tonne und wünschte sich von Kaiser Alexander, dass er ihm aus der Sonne gehe, sondern urinierte und onanierte auch in aller Öffentlichkeit, um damit gegen die herrschende Schamkultur zu demonstrieren. Doch seine Unverschämtheit konnte nur in die Geschichte eingehen, weil sie außerordentlich war. Im Grunde benutzte Diogenes gerade die Schamhaftigkeit der Menschen, um auf sein Anliegen besonders provokant aufmerksam zu machen. An der Verbreitung des Schamgefühls änderte sich nichts.

Die meisten Evolutionsbiologen gehen davon aus, dass das Reaktionsmuster der Scham beim Menschen genetisch angelegt ist. Es braucht zwar weitere psychologische und soziale Voraussetzungen, damit es im Verlaufe der frühen Kindheit zum Ausdruck kommen kann. Doch ist unbestritten, dass Scham kein bloß gesellschaftliches oder erzieherisches Konstrukt ist. So findet sich der für Scham typische Gesichtsausdruck transkulturell in der ganzen Welt. Dazu gehört neben dem Senken der Augenlider, dem Abwenden des Blickes und einer Kopfdrehung zur Seite auch die besonders auffallende Rot- oder Dunkelfärbung der Haut, was im Übrigen dazu geführt hat, dass Scham in sehr vielen Sprachen mit der Farbe Rot assoziiert ist.

Manchmal wird gegenüber solchen Befunden kritisch eingewendet, es gebe doch schriftlose Primärkulturen wie Indianerstämme, bei denen sich Menschen ihrer Nacktheit und anderer natürlicher Verhaltensweisen nicht schämten. Dem ist allerdings nicht so. Körperscham findet sich in allen Kulturen, die studiert worden sind. Sie wirkt sich nur unterschiedlich aus. Doch bedeutet der Umstand, dass Menschen in solchen Primärkulturen unbekleidet leben, keineswegs, dass ihnen Körperscham fremd ist. Zum einen können bereits Schmuckstücke oder Tätowierungen einen Menschen kleiden. So reagieren etwa Yanomami-Frauen, die lediglich eine dünne Schnur um die Körpermitte tragen, höchst verlegen, wenn sie aufgefordert werden, diese abzulegen. In diesem Falle kann eben auch die Schnur eine Grenze bezeichnen, die es zu beachten gilt. Zum anderen müssen sich auch Menschen, die keineswegs »nackte Wil