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Die Medialen haben allesÜbel unter einer Schneedecke verborgen. Seht euch vor, und seid wachsam. Lasst nie wieder solch großes Leidüber euch kommen.
Aus einem Brief Aren Snows, geöffnet nach ihrem Tod im Jahr 2059
Das Gefühl von Trauer traf ihn mit der Wucht eines Faustschlags.
Alexei unterbrach seinen Lauf und blieb taumelnd im strömenden Regen stehen, als er unvermittelt erkannte, dass der unsagbare Schmerz nicht sein eigener war. Er spürte ein Brennen in den Augen und einen Kloß im Hals, aber Mann und Wolf wussten beide instinktiv, dass dieser Schmerz von außen auf ihn eindrang.
Nur etwa einmal im Monat, wenn er sich ihrer in einer trostlosen Nacht nicht mehr erwehren konnte, ließ Alexei seiner eigenen Trauer freien Lauf, sonst hielt er sie fest in sich verschlossen. Dann rannte er als Wolf durch die Nacht und schickte ein zorniges Heulen zum kalten Mond hinauf; andere stimmten ein, doch er achtete nicht darauf.
Sein Kummer war von Wut und Aggression geprägt und von dem dringenden Bedürfnis, ihn mit sich selbst auszumachen. Für seine Rudelgefährten war»Privatangelegenheit« gewöhnlich ein Fremdwort, doch in diesem Fall nahmen sich alle, mit Ausnahme der uneinsichtigen Dickköpfe, zusammen. Wahrscheinlich, weil sie wussten, dass Alexei sie mit einem Knurren zurück in die Höhle scheuchen würde. Seine Trauer hatte scharfe Krallen.
Der Schmerz, den er heute spürte, war rein und ungezügelt, hilflos wie ein verwundetes Tier, dessen Pfote sich in einer tödlichen Falle verfangen hatte. Ein gebrochenes Geschöpf an einem lichtlosen Ort, allein und verängstigt. Ein fühlendes Wesen, das alle Hoffnung verloren hatte.
Seine beiden Seiten konnten sich kaum bezähmen, es aufzuspüren und zu versuchen, seinen Schmerz zu lindern. Als dominantem Raubtiergestaltwandler war ihm ein ausgeprägter Beschützerinstinkt gegenüber Schwächeren angeboren. Und dieser machte angesichts solch herzzerreißenden Kummers keinen Unterschied, ob es sich bei dieser Person um ein Rudelmitglied, einen Wolf, handelte oder nicht.
Alexei zwang sich, ruhig zu bleiben und nachzudenken. Es gab nur einen möglichen Ursprung für diesen heftigen emotionalen Sturm, der durch seine Adern rauschte – es musste sich um einen E-Medialen handeln. Und nicht um irgendeinen. Um jemanden mit außergewöhnlichen Kräften, der seine Gefühle auf allen geistigen Kanälen aussendete, ohne sich darum zu scheren, wer von seinem Schmerz erfasst wurde.
Alexei war erst mit zwei Personen, die dieser Kategorie angehörten, in Berührung gekommen. Eine davon kannte er besser, und er entsann sich noch, wie sie bei ihrem Treffen gelacht und ihn mit einer Freude angesteckt hatte, die er wie Wellen in der Luft empfunden hatte, die einen zarten verführerischen Duft mit sich führten. Dagegen war das hier ein Tsunami, jedoch ohne den Versuch, seine Sinne zu verwirren.
Diese Empathin hier schrie ihren Kummer so laut heraus, dass er meinte, ihm müsse sein ohnehin schon wundes, blutendes Herz zerspringen. Dabei hatte sie ihn weder bewusst auserwählt noch versuchte sie auf irgendeine Weise, in seinen Verstand einzudringen. Dazu waren die emotionalen Wellen zu unkontrolliert und chaotisch. Ein Wolf würde sehrähnlich auf den Verlust seines Partners reagieren, er würde den Kopf zurückwerfen und wildes Trauergeheul zum Himmel emporschicken. Und es wäre ihm ganz einerlei, ob irgendwer ihn hörte.
Dies war kein Medialentrick, keine Falle.
Alexei rannte in die Richtung, aus der ihm der unsägliche Kummer entgegenschlug.
Noch wenige Augenblicke zuvor war er ungeachtet des Bewegungsdrangs seines Wolfs drauf und dran gewesen umzukehren. Das plötzliche Auffrischen des Windes machte ihm Sorgen, der Regen hatte sich in einen dichten silbrigen Vorhang verwandelt, der jederzeit in eisigen Hagel umschlagen konnte. Obwohl die Berge der Sierra Nevada in Kalifornien noch immer unter einer dichten Schneedecke lagen, die sich teils bis hinunter zu seiner Höhenlage erstreckte, war das Wetter trotz bedecktem Himmel annehmbar gewesen, als er die Höhle verlassen hatte.
Jetzt war an eine Umkehr nicht mehr zu denken.
Seine Stiefel flogen geradezuüber die mit verschneiten Tannennadeln und welkem Laub bedeckte Erde, als er mit der Schnelligkeit des Wolfs im eisigen Regen durch den Wald sprintete. Hohe, weiß bestäubte Tannen streckten ihre Wipfel in den dunkelgrauen Himmel, bis sie nach kurzer Zeit kleineren Bäumen wichen.
Wenig später hatte er auch sie hinter sich zurückgelassen.
Selbst in den Sommermonaten konnte es so hoch oben in den Bergen bitterkalt sein, eine unwirtliche Gegend für größere Gewächse. In den letzten zwei Wochen war es jedoch