: Friedrich Christian Delius
: Wenn die Chinesen Rügen kaufen, dann denkt an mich
: Rowohlt Verlag Gmbh
: 9783644004153
: 1
: CHF 10.00
:
: Gegenwartsliteratur (ab 1945)
: German
: 256
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Kassandra wird gekündigt. 'Kassandra' ist der Spitzname eines durchaus heiteren Wirtschaftsredakteurs, der den Fehler hat, lieber eigenen Recherchen zu folgen als den Pressesprechern der Minister und Konzerne. Der in der Kantine schon mal die Frage stellte, welche Politiker wohl in die Hölle kommen müssten, nachdem sie jahrzehntelang eine vernünftige Einwanderungspolitik verweigert haben. Noch am Abend seiner Entlassung schreibt er weiter - nun im Tagebuch, frischer und frecher. Manchmal denkt er dabei an seine achtzehnjährige Nichte, die später vielleicht fragen wird: Wie war das damals im frühen 21. Jahrhundert, als Europa auseinanderbröselte? So konzentriert er sich auf die Vergewaltigung Griechenlands in der Bankenkrise. Und auf die Blindheit gegenüber China, das mit seiner Wirtschaftsmacht und antidemokratischen Ideologie immer näher rückt. Der gefeuerte Journalist flaniert durch Berlin und durch die deutsche Presse; er hört Jazz und das tektonische Beben der alten Weltordnung. Mit seinem Freund Roon, der nach Jahren in den USA nun Landarzt auf Rügen werden will, phantasiert er beim Wandern über die Kreidefelsen schon mal hundert Jahre voraus: wenn dankbare Chinesen der heutigen Kanzlerin ein Denkmal auf Rügen errichten. Ein widerborstiger, pointierter, hochpolitischer und hellsichtiger Roman.

Friedrich Christian Delius, geboren 1943 in Rom, gestorben 2022 in Berlin, wuchs in Hessen auf und lebte seit 1963 in Berlin. Zuletzt erschienen der Roman «Wenn die Chinesen Rügen kaufen, dann denkt an mich» (2019) und der Erzählungsband «Die sieben Sprachen des Schweigens» (2021). Delius wurde unter anderem mit dem Fontane-Preis, dem Joseph-Breitbach-Preis und dem Georg-Büchner-Preis geehrt. Seine Werkausgabe im Rowohlt Taschenbuch Verlag umfasst derzeit einundzwanzig Bände.

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14.1.2018 | Es stimmt, ich kann nicht nicht schreiben.

 

Einen Monat keinen Computer anschalten, vier Wochen keine Datei füllen, 31 Tage den Meinungsrummel nur von außen verfolgen – ich hab es geschafft, aber es kam mir vor wie ein Vierteljahr. Selbstauferlegte Pause, schlimmer als ein Marathon (den ich nie geschafft habe). War es eine Bußübung, die ich mir da auferlegt habe? Und warum? Der Vogeldeuter wollte wissen, körperlich, wie das ist, ein gesunder Vogel mit gestutzten Flügeln zu sein. Nun weiß ich besser, was ich will und worauf ich nicht verzichten kann. Eine freiwillige Handfessel, dafür bin ich nicht der Typ. Der Schmerz, wenn Hirn und Hände, Kopf und Finger nicht in den Gleichtakt, in Bewegung, in Schwung kommen dürfen. Nie wieder solch ein Experiment! Es lebe die Tastatur!

 

Auftrieb an Silvester: ein paar Sandsäcke abgeworfen.

 

Schon beim Neujahrsspaziergang durch den Schlosspark Charlottenburg, aufgeräumt wie immer und fast ohne Restedreck der Feuerwerke auf den Wegen, erklärte ich, verkatert, aber aufgeräumt, Susanne meine neue Devise: Heute beginnt nicht mein Vorruhestand, sondern ein Sabbatical, mindestens ein halbes, höchstens ein Jahr Pause. Keine Veröffentlichungen, nichts. Große Pause, und dann leg ich noch einmal los, vielleicht nicht mehr als Einzelkämpfer, vielleicht in einem Rechercheteam hier oder da, mal sehn. Es war ungewöhnlich warm und meine Gefährtin so erleichtert, keinen Jammerrentner an der Seite zu haben, dass sie mit einer Liebeserklärung antwortete, die gewöhnlichen vier Silben, dazu ihr schönstes Funkeln in den Augen.

 

«Heiterkeit ist ein wesentlicher Zustand, den man mindestens einmal pro Tag erreichen sollte.» Diesen Satz hatte sie mir zum Frühstück serviert, wir schenken uns zu Neujahr gern irgendwelche sinnreich-albernen Sprüche. Goldene Worte, silberne Banalitäten, bronzene Schlausätze. Diesmal bekam ich diesen, vom Theatermann Hans Neuenfels.

Ich dachte nicht, das schon nötig zu haben, eine Ermahnung zur Heiterkeit, diesen Wink mit dem Zaunpfahl. Aber sie hatte den Satz ausgesucht, bevor sie von meinem Entschluss wusste. Außerdem baut sie vor, als gute Strategin. Und sieht mir die Heiterkeit vor der Tastatur zu selten an – weil sie nebenan sitzt und stapelweise wenig erheiternde Aufsätze korrigiert.

Meine Jahresgabe für sie lieferte Goethe: «Nicht überall, wo Wasser ist, sind Frösche; aber überall, wo Frösche sind, ist Wasser.»

 

Sabbatical hört sich hochtrabend professoral an. Ich will mir Zeit nehmen, die Folgen der sogenannten Eurokrise besser zu verstehen, die Verleugnung der Bankendummheit und die Versündenbockung Griechenlands durch M.s Regierungen. Ich nenn es nicht nationalistisch, ich nenn es deutschistische Politik, nur an die deutschen Wähler zu denken und damit die Lähmung Europas, den Rechtspopulismus inklusive AfD, den chinesischen Einfluss in Europa entscheidend zu fördern.

 

An Weihnachten wieder ein Gespräch mit Lena. Natürlich nicht verraten, dass sie meine heimliche Adressatin geworden ist. Schön zu sehen, wie schnell bei ihr eine gezielte politische Wut aufsteigt. Etwa wenn ich ihr erzähle, dass es im Bundestag immer noch kein Lobbyistenregister gibt, wie es bei derEU längst üblich ist (was zwar nicht viel nützt, aber doch ein wenig). Man konnte richtig sehen, wie es in ihr wütete, als ich erklärte, warumCDU undCSU das ablehnen und dieSPD es viel zu lasch befürwortet. Sie fragte hartnäckig nach. Andererseits erfreulich pragmatisch: Wenn nun schon so viele Flüchtlinge im Land sind, sollten wir doch die Gelegenheit nutzen, uns mehr auf die Welt einzulassen, vielleicht auch bescheidener zu werden, «so viele leben doch im Speck, oder?» Ich widersprach ihr nicht. In Sachen Klima wurde si