KAPITEL 1
Einen Selbstmordversuch machte gestern ein 20jähriges Dienstmädchen, indem es beim Alsterufer in die Alster sprang und in die höchste Gefahr gerieth. Ein Ewerführer, der Augenzeuge des Vorfalles war und die Noth der Selbstmord-Kandidatin erblickte, sprang hinzu und es gelang ihm mit Hülfe eines Commis, die Betreffende zu retten. Die Gerettete erklärte, daß sie nur der schlechten Behandlung seitens ihrer Dienstherrin, einer Hebamme, zu entgehen, den Tod gesucht habe.
Originalauszug: Hamburger Generalanzeiger,
22. Oktober 1896
Das gleichmäßige Rattern der Räder unter ihren Füßen machte Sophie müde. Vor dem Abteilfenster der ersten Klasse zogen abgeerntete Felder vorbei. Verstreut zwischen rot und gelb leuchtenden Baumgruppen duckten sich reetgedeckte Gehöfte. Der Sommer war vorüber und schickte sich an, in einen goldenen Herbst überzugehen, dem früher oder später Stürme und Regen folgen würden. Mit halb geschlossenen Augen fragte sich Sophie, ob dies tatsächlich ihr letzter Herbst im Hause Konsul Winters sein sollte.
Sie warf dem jungen Mädchen ihr gegenüber einen Blick zu, das mit gefalteten Händen im Schoß kerzengerade dasaß. Clara war die älteste Tochter des Konsuls und würde noch vor dem Weihnachtsfest für ein Jahr nach England reisen, wo ihre Erziehung vervollkommnet werden sollte. Doch sosehr die Familie auch versuchte, Clara für die Reise zu begeistern, das Kind wollte sich nicht darauf freuen. Sophie hatte ihr von den vornehmen Salons der adeligen Damen erzählt, in die sie sicherlich geladen werden würde, geschwärmt von den Jagdausritten auf dem Land, an denen sie teilnehmen könnte, um sich am Abend unter den Kronleuchtern eines Ballsaals zu drehen oder zu den Klängen einer Polka zu hüpfen. Sie hatte ihr von der neuen Royal Albert Hall berichtet, wo die besten Musiker der Welt auftraten. Doch Clara antwortete auf all die gut gemeinten Versuche stets mit einem freundlichen, aber nichtssagenden Lächeln. Erst gestern hatte sie beim Abendessen gemeint, dass sie es wohl kaum verhindern könne, dass man aus ihr eine Dame zu machen gedenke. Der letzte Sommer einer unbeschwerten Kindheit sollte für das Mädchen bald sein Ende finden, und der Abschied vom Vater und von den Geschwistern lag vor ihr. Wie konnte Sophie ihr nur klarmachen, dass ein Abschied auch immer ein Neubeginn war? Sophie hatte dieses Mädchen in den Jahren bei Konsul Winter in ihr Herz geschlossen. Es fiel ihr schwer, den einst so wilden Zögling gehen zu lassen, obwohl noch zwei jüngere Geschwister im Haus waren. Doch auch deren Erziehung würde Sophie wohl schon bald nicht weiterführen können.
Sie drehte den Verlobungsring, der schon begann, seinen Glanz zu verlieren, an ihrem Ringfinger. Mittlerweile hatten Hauke und sie viele Gelegenheiten verstreichen lassen, einen Hochzeitstermin bekannt zu geben. So mancher zweifelte bereits daran, dass es je zu einer Ehe zwischen dem schweigsamen Kommissar und der eigensinnigen Lehrerin kommen könnte. Und dennoch, sobald sie erst verheiratet w