1
Diesmal durfte nicht geschwiegen werden! Schon einmal waren zu viele in der deutschen Bevölkerung stumm geblieben, als mutige Worte und Taten notwendig gewesen wären. Doch jetzt stand sogar noch mehr auf dem Spiel: Es ging um nicht weniger als die drohende Vernichtung der gesamten Menschheit! Sofie Timmlein eilte mit einem Flugblatt in der Hand die Treppen der Villa Nieland hinauf. Die resolute Vierundsechzigjährige war auf der Suche nach der Besitzerin des Elbschlösschens – ihrer besten Freundin Anna Nieland. Sie fand die modebewusste Dame wie so häufig im Türmchen ihrer Villa. Von dort genoss sie einmal mehr die schöne Aussicht auf die Elbe und die Einfahrt zum Hamburger Hafen. Als Sofie die Stiege in den kleinen Turm erklomm, spielte der Frühlingswind mit ihren langen, von nur wenigen weißen Strähnen durchzogenen, blonden Haaren – wie einst ihre Mutter ergraute auch sie jetzt im Alter kaum. Anna Nieland, deren dreiundsechzigsten Geburtstag sie vor zwei Tagen gefeiert hatten, befand sich in Gesellschaft von Sofies Enkeltochter Isabel. Das sechzehnjährige Mädchen war wie die Patriarchin sehr exquisit gekleidet und trug ihr dunkles Haar ebenso modern geschnitten: kinnlang, mit einer in die Stirn fallenden Welle, am Oberkopf stark toupiert und über den Ohren in je einer Locke herabfallend. Sie hatten beide stark geschminkte Augen, geradezu katzenartig.
»Sofie, Liebes, was ist passiert?«, fragte Anna, als sie ihre Freundin erblickte. »Du bist ja ganz aufgeregt.«
Sofie deutete auf das Flugblatt in ihrer Hand. »Unsere Freundin Helga Stolle von den Atomwaffengegnern hat das geschickt. Am Karfreitag soll es von Hamburg-Harburg zu einem viertägigen Protestmarsch losgehen«, fasste Sofie die wichtigsten Eckdaten des Schreibens zusammen. »Ziel ist der Raketenübungsplatz Bergen-Hohne.«
»Ah, gute Idee. An diesem schrecklichen Ort kann man gar nicht genug demonstrieren«, entgegnete Anna überzeugt. In der Nähe des ehemaligen Konzentrationslagers Bergen-Belsen waren von der westdeutschen Bundeswehr im Dezember 1959 die ersten Träger für Atomraketen erprobt worden. Anna und Sofie hatten im Zweiten Weltkrieg ihnen liebe Menschen verloren. Daher waren sie besonders entsetzt darüber, dass – nach der umstrittenen Wiederbewaffnung der Bundesrepublik vor knapp fünf Jahren – nun sogar diese furchtbaren Massenvernichtungswaffen auf deutschem Boden getestet wurden. Anna streckte die Hand nach dem Flugblatt aus und begann es zu studieren: Die Gruppe wollte durch den geplanten Ostermarsch zu jenem Raketenübungsplatz Bergen-Hohne öffentlich ihr entschiedenes Nein zu atomaren Waffen bekennen.
»Ihr Widerstand richtet sich gegen atomare Kampfmittel jeder Art und jeder Nation«, las die Villenerbin vor, und Isabel, Sofies Enkelin, lauschte aufmerksam. »Sie knüpfen mit dem Protest an den großen englischen Ostermarsch an. Der findet seit 1958 jährlich statt – mit jeweils Tausenden von Teilnehmern.«
Helga Stolle und Hans-Konrad Tempel, zwei mit Annas Tochter befreundete Pazifisten und Quäker, hatten die Protestform der Ostermärsche von England auch nach Deutschland gebracht.
»Na, was meinst du?«, fragte Sofie, die mit ihrer Familie seit fast vier Jahrzehnten in der ausgebauten Wohnung über dem Wagenschuppen neben der Elbstrandvilla lebte. Sie strahlte Entschlossenheit aus. »Finden wir ihre Gründe stichhaltig genug, dass auch wir zwei alten Krähen mitmarschieren sollten?«
»Aber unbedingt!«, sagte Anna im Brustton der Überzeugung. Sie war froh gewesen, als ihre Freundin neulich verkündet hatte, dass es angesichts ihres Alters allmählich an der Zeit sei, ihre eigene Zahnarztpraxis baldmöglichst aufzugeben – und Anna noch mehr bei deren politischer Arbeit zu helfen. Einen geeigneten Nachfolger für Sofies Praxis zu finden, würde allerdings gewiss nicht einfach werden. Schließlich war die dreifache Mutter und dreifache Großmutter eine der beliebtesten Zahnärztinnen Hamburgs. Da würden die Patienten nicht jeden akzeptieren.
Auch Anna trat in letzter Zeit beruflich kürzer, überließ ihr Modehaus zunehmend ihrem zweiten Ehemann Franz und Sofies Tochter, Modeschöpferin Hilde. Die beiden weilten derzeit mit Hildes Mann, dem Kunstprofessor José Torres, in Paris. Annas politisches Engagement wurde jetzt im Alter immer breiter gefächert. Beisp