2 Rhys
»So, Mr Bolton«, sagt Powell, einer der Wärter, »dann hoffe ich für Sie und uns, dass wir Sie hier nicht mehr zu Gesicht bekommen.«
Es ist das erste Mal in meinem Leben, dass ich »Mr Bolton« genannt werde. Die letzten sechs Jahre war ich »Bolton« oder »52899«, Gefängnisinsasse des Pearley Juvenile Prison.
Powell händigt mir eine alte Plastiktüte aus. »Ihre Sachen«, sagt er. In der Tüte befinden sich eine Jeans und ein T-Shirt – die Klamotten, die ich anhatte, als sie mich mit fünfzehn hier eingesperrt haben. Schon damals war mir beides eigentlich zu klein. Was ich jetzt damit soll, weiß ich nicht, aber ich nehme die Tüte brav entgegen und quittiere den Empfang.
Powell eskortiert mich den langen Gang entlang, der neben diversen Hochsicherheitstüren und Schleusen den Trakt 2, in dem ich die letzten Jahre untergebracht war, vom Ausgang trennt. Metall- und Plastikröhren verlaufen an der Decke, und der gesamte Bau scheint zu summen.
Tief im Innern des seelenlosen Gebäudes betätigt jemand einen Knopf. Es ertönt ein dröhnendes Warnsignal – das Zeichen, dass die Tür jetzt entriegelt ist. Sie öffnet sich automatisch, und ich trete hindurch. In die Freiheit. Das erste Mal seit sechs verfluchten Jahren. Die Sonne blendet mich, und ich muss blinzeln. Ich stehe auf dem asphaltierten Vorplatz desPJP und habe das Gefühl, es sollte irgendetwas Großes passieren. Die Welt sollte mich, Rhys Bolton, willkommen heißen. Aber die Welt ist nicht mehr das, was sie war, als ich mich mit fünfzehn von ihr verabschiedet habe. Sie will mich nicht, und ich weiß nichts über sie. Wir sind einander völlig fremd.
Ich gehe einen Schritt und blicke dann noch einmal zurück. So richtig glauben kann ich es noch nicht. Aber tatsächlich, die Tür, durch die ich hinausgegangen bin, schließt sich in diesem Moment wieder – und ich stehe immer noch hier. Außerhalb der hohen Mauern, die jede Freude, jeden Traum ersticken. Draußen. Vermutlich sollte ich glücklich sein, mich verdammt noch mal federleicht fühlen. Aber ich fühle nichts. Ich merke nur, dass meine Jeans und der viel zu große Kapuzenpulli, die meine Sozialarbeiterin mir besorgt hat, zu warm sind für den kalifornischen Sommer. Aber in meine Sachen von damals, die ich als einzige Erinnerung an mein früheres Leben in der Hand halte, passe ich nun mal nicht mehr. Mit dem Jungen von damals habe ich nichts mehr zu tun. Innerlich wie äußerlich. Denn wenn man den Wichsern imPJP körperlich nichts entgegensetzen kann, wird man kaputt gemacht. Noch kaputter. Jetzt kann ich jedem Arschloch, das mir zu nahe kommt, den verdammten Schädel einschlagen.
Obwohl ich weiß, was meine nächsten Schritte sein sollten, stehe ich unschlüssig herum. Ich will mich nicht bei Amy melden. Das ist die Sozialarbeiterin mit dem »richtigen Riecher« für Kleidergrößen. Sie hat mir ein Zimmer in einer Wohngemeinschaft besorgt und einen Job in einem Café, das »Leuten wie mir« eine zweite Chance gibt. Sie hat mir die Adresse ihres Büros aufgeschrieben, dort soll ich mich melden, wenn ich »draußen bin«. Aber ich habe keine Lust. Nicht auf Amy, nicht auf das Zimmer, nicht auf den Job. Ich will hier stehen und mich irgendwann auflösen. Komplett verschwinden. Dieses Leben ist nicht für mich. Für irgendjemanden, sicher. Aber nicht für mich. Für mich ist es eigentlich schon vorbei.
Doch es gibt da eine Sache, die ich mir geschworen habe. Den einen Gedanken, der mich am Leben gehalten hat. Ein Bild steigt vor meinem inneren Auge auf. Es ist verschwommen, so lange ist es inzwischen her. Aber ich halte es fest, klammere mich daran. Und siehe da, meine Füße setzen sich in Bewegung. Vielleicht liegt es auch daran, dass die Sohlen meiner zu kleinen Schuhe sehr dünn sind und der heiße Asphalt sich langsam in meine Fußsohlen brennt. Aber ich habe immerhin dieses eine Ziel. Und um das zu erreichen, muss ich wissen, woer sie versteckt. Dafür brauche ich eine Internetverbindung. Und dafür brauche ich eine Bude. Und ich brauche einen Laptop, wofür ich wiederum den Job brauche. Also brauche ich Amy.
Ich habe keinen mickrigen Cent für den Bus, der ohnehin nur einmal pro Stunde fährt, wie mir der Fahrplan verrät, auch wenn es schwer ist, etwas darauf zu erkennen, so vergilbt, wie er ist. Zu allem Überfluss hat jemand mit einem wasserfesten Filzstift seine hässlichen Initialen darüber verteilt.
Also werde ich zu Fuß gehen. Der Weg führt mich durch meine alte Nachbarschaft. Durchunsere alte Nachbarschaft. Ich überlege, ob ich einen Umweg gehen soll, um unser Haus nicht sehen zu müssen, um die Leere, die ich fühle, nicht bestätigt zu sehen. Denn sie sind nicht mehr da.
Die Neugierde siegt, und so mache ich mich auf den Weg an der heißen Straße entlang. Grillen zirpen laut in den Grasstreifen zu beiden Seiten. Es gibt keinen Fußweg, aber in dieser Gegend ist nicht viel Verkehr. Als ich die ersten Häuser erreiche, bin ich beinahe überrascht, wie abgefuckt es hier ist. In der Erinnerung habe ich meine Herkunft und mein trauriges Leben vermutlich verklärt. Die Fenster, sofern sie noch Scheiben haben, starren mich an wie schwarze Löcher. In den Vorgärten liegt Müll, der langsam von Unkraut überwuchert wird.
Ich biege in unsere Straße ein. Einige staubige Autos, die ihre beste Zeit längst hinter sich haben, parken am Straßenrand. Aus irgendeinem Haus dringt Kindergeschrei, das gleich darauf wieder verstummt. Probleme und Streitigkeiten werden in dieser Gegend ohne viele Worte gelöst.
Ich setze beinahe widerwillig einen Fuß vor den anderen, wage es kaum, den Blick zu heben. Das Haus, in dem ich meine Kindheit verbracht habe, ist nicht einmal hundert Meter von mir entfernt. Doch ich zwinge mich, weiterzugehen. Ich muss den Schmerz spüren. Ein letztes