»Ein aufregendes Erlebnis«
Dr. Menninger erinnert sich an seinen Besuch bei Freud
Die Berggasse liegt inmitten des grauen Häusermeeres von Wien. Sobald die ersten Sonnenstrahlen des Frühlings die Kälte des Winters vertrieben hatten, zog es Freud hinaus an den Stadtrand, der den Duft des Wienerwalds in sich aufnimmt. Von Mai bis September bewohnte er eine alte Villa, »schön wie ein Märchen«, sagte er, mit prachtvollem Garten im noblen Bezirk Grinzing. Es war ein politisch »heißes Jahr«, als sich Freud über die Sommermonate 1934 in Wiens vielbesungenem Wein- und Heurigenort niederließ. Im Februar war Österreich Schauplatz eines blutigen Bürgerkriegs gewesen, im Juli fiel der Bundeskanzler einem von Nationalsozialisten organisierten Mordanschlag zum Opfer. Nicht nur Freud sah der Zukunft seiner Heimat mit tiefem Pessimismus entgegen.
Das ist die Situation, in der sich der 41jährige amerikanische Psychiater Dr. Karl Menninger in ein Propellerflugzeug setzt und die weite Reise von Kansas nach Österreich antritt, um dem 78jährigen Freud einen Besuch abzustatten. Per Taxi fährt er am zweiten Tag seines Aufenthalts von einem Hotel in der Wiener Innenstadt zu dem von Freud gemieteten Sommerhaus in der Grinzinger Strassergasse. Anna Freud öffnet die Tür, führt den Gast vorerst in ein düsteres Zimmer und dann, nach längerer Wartezeit, in den Garten der Villa, wo ihr Vater unter dem Schutz eines schattenspendenden großen Baumes sitzt. Hier kommt es zum Treffen der beiden Ärzte.
Sigmund Freud wurde vor 150 Jahren geboren. Es gibt keinen Menschen mehr, der ihm persönlich begegnet ist und darüber berichten könnte. Als ich im Frühjahr 1989 nach Topeka, der Hauptstadt des amerikanischen Bundesstaates Kansas kam, gab es noch einen. Er hieß Dr. Karl Menninger, und er war es auch, der Freud im August 1934 in Wien besucht hatte. Dr. Menninger war 96 Jahre alt, als ich vor ihm stand. Ein Mann von unglaublicher Energie und imponierender Leistungsfähigkeit. Er war nicht nur Gründer, sondern auch der überaus aktive Präsident derMenninger Foundation, einer der größten privaten Psychiatrischen Kliniken der Welt. Der agile und temperamentvolle Psychiater führte mich während meines zweitägigen Besuchs in Topeka durch fünf Kliniken und Institute, an denen er auch damals noch tagtäglich seiner Arbeit nachging.
»Sie kommen wegen Freud«, setzte Karl Menninger an, »ja, ich flog damals zu ihm nach Wien, und es war ein unvergeßliches Erlebnis. Nicht mein schönstes vielleicht, aber sicher eines der aufregendsten, die ich hatte.« Bald stellte ich die Frage, die sich aufdrängt, wenn man als Autor einer Freud-Biographie einen der letzten lebenden Freud-Zeugen vor sich hat. Es war die