: Georges Simenon
: Das Testament Donadieu Die großen Romane
: Hoffmann und Campe
: 9783455006346
: Die großen Romane
: 1
: CHF 15.30
:
: Gegenwartsliteratur (ab 1945)
: German
: 544
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Als Oscar Donadieu, erfolgreicher Reeder und Oberhaupt einer einflussreichen Großfamilie aus La Rochelle, als vermisst gemeldet wird, ist die Aufregung in der Hafenstadt groß. Wenig später wird der Zweiundsiebzigjährige tot aus einem Kanal geborgen. Unwahrscheinlich, dass es sich um einen Unfall oder um Selbstmord handelt. Er muss ermordet worden sein. Doch von wem? Und dann ist da noch das Testament, das für einen handfesten Skandal sorgt - und das auf einmal alles bröckeln lässt, was sich die stolze Dynastie über Generationen erarbeitet hat ...

Georges Simenon, geboren am 13. Februar 1903 im belgischen Lüttich, gestorben am 4. September 1989 in Lausanne, gilt als der »meistgelesene, meistübersetzte, meistverfilmte, in einem Wort: der erfolgreichste Schriftsteller des 20. Jahrhunderts« (Die Zeit). Seine erstaunliche literarische Produktivität (75 Maigret-Romane, 117 weitere Romane und mehr als 150 Erzählungen), viele Ortswechsel und unzählige Frauen bestimmten sein Leben. Rastlos bereiste er die Welt, immer auf der Suche nach dem, »was bei allen Menschen gleich ist«. Das macht seine Bücher bis heute so zeitlos.

Erster TeilDie Sonntage von La Rochelle


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Die Platzanweiserin durchquerte den Vorraum, öffnete die Glastüren sperrangelweit, streckte die Hand vor, um sich zu vergewissern, dass es nicht mehr regnete, und ging wieder hinein, wobei sie ihre schwarze Strickweste über der Brust zuknöpfte. Wie auf ein Signal verließ nun auch die Frau, die Karamellbonbons, Erdnüsse und Nougatstangen verkaufte, den überdachten Türeingang und ging zu ihrem Stand hinüber, den sie am Rande des Bürgersteigs aufgebaut hatte.

Drüben an der Ecke der Rue du Palais, der Polizist … Alles hier war Ritual, griff ineinander, nach verlässlichen Gesetzen. Denn man war in La Rochelle, und das gelbe Band mit der AufschriftNeues Programm auf den Kinoplakaten genügte, um zu wissen, dass Mittwoch war, während anderswo der Wechsel freitags oder samstags oder montags stattfand.

Über dem Karren der Süßwarenverkäuferin war ein Regenschirm aufgespannt, und die Zuschauer, die endlich aus dem Kino kamen, streckten, wie vorher die Platzanweiserin, die Hand vor. Fünfzig, hundert Personen vielleicht sagten, als sie auf den Bürgersteig traten, der eine zu seiner Frau, die andere zu ihrem Mann:

»Sieh an! Es regnet nicht mehr …«

Aber es war kühl. Es hatte sozusagen keinen Sommer gegeben. Das Casino du Mail hatte vierzehn Tage früher als üblich geschlossen, und schon jetzt, Ende September, hätte man glauben können, man sei mitten im Winter. Und der Himmel war in dieser Nacht zu hell, mit blassen Sternen, unter denen tiefhängende Wolken schnell hinwegzogen.

Zehn Autos, fünfzehn Autos? Anlasser wurden betätigt. Scheinwerfer leuchteten auf, und die Wagen fuhren langsam in dieselbe Richtung, ohne zu hupen, wegen des Polizisten, und gaben erst Vollgas, als sie die Menschenmenge hinter sich gelassen hatten.

Es war ein Mittwoch wie jeder andere. Zwei weitere Dinge wiesen darauf hin, dass man nur in La Rochelle sein konnte. An der Straßenecke schauten die Leute gewohnheitsmäßig zum Uhrturm hinauf: es war fünf Minuten vor Mitternacht. Im Alhambra endete die Vorstellung nie vor elf Uhr wie in anderen Kinos, wegen der Varieténummer, die fest zum Programm gehörte.

Das Zweite war der Lärm, den man schon gar nicht mehr hörte, weil man daran gewöhnt war: ein dumpfes Platschen hinter den Häusern, und dazu, schrill, das Quietschen der Flaschenzüge auf den Fischerbooten. Ohne nachzusehen, wusste jeder, dass das Wasser im Hafenbecken, durch die Flut angestiegen, die Quais erreichte und die Schiffe nun direkt aus dem Pflaster herauszuwachsen schienen.

Unterdessen betrat der Kinobesitzer wie gewohnt den Glaskasten der Kasse, wo eine alte Frau, den Hut bereits auf dem Kopf, ihm den gelben Umschlag mit den Einnahmen und den auf die Rückseite mit Bleistift gekritzelten Zahlenreihen übergab. Sie wechselten ein paar Worte, die von draußen nicht zu verstehen waren. Der Barmann ging als einer der Letzten.

Der Kinobesitzer brauchte nur noch die Türen zu schließen und zum Schlafen in die Kammer hinaufzugehen, die er sich neben der Vorführkabine