1. Kapitel
Es war leider kein Geheimnis, dass mein Bruder Charles nicht nur ein unverbesserlicher Spieler und unglaublicher Langschläfer, sondern auch als Einziger von uns vier Geschwistern zu faul war, sich an Familienstreitigkeiten zu beteiligen. Da konnten meine Schwestern noch so nervig sein. (Waren sie normalerweise auch.)
Aber für einen älteren Bruder hatte er eine wunderbare Eigenschaft: Man konnte ihn immer wieder leicht zu etwas überreden.
»Dir ist schon klar, Katie, dass Stiefmama dir den Hals umdreht, wenn sie es herausfindet«, flüsterte er mir jetzt zu und gähnte dabei so lauthals, dass Leute, die ihn nicht kannten wie ich, ihn gar nicht verstanden hätten. Er war bereits zum zweiten Mal mit Schimpf und Schande von der Universität Oxford geflogen und wohnte wieder zu Hause. Obwohl er sich vor Familienpflichten mit Vorliebe in den Schlaf flüchtete, folgte er mir heute am frühen Morgen vor sich hingähnend und mäkelnd die knarzenden Holzstufen hinunter ins Erdgeschoss der Pfarrei, unserem Zuhause.
Gemeinhin scheute er die Anstrengung, sich gegen jemanden zu wehren, der sich über sein erstes »Nein« hinwegsetzte. Und ich, sturköpfig, wie alle meine Geschwister bezeugen konnten, ließ mich schon gar nicht mit einem Nein von ihm abspeisen.
Draußen und drinnen war es noch dunkel, und lediglich die Kerze in meiner Hand warf Licht auf die Treppe. Damit auch Charles etwas sehen konnte, hielt ich sie hoch, achtete aber darauf, dass ich nicht auf die Stellen trat, wo das uralte Holz morsch war.
»Stiefmama wird mir den Hals deshalb nicht umdrehen, weil sie gar nichts erfährt«, flüsterte ich. »Außerdem ist sie so sehr mit den Hochzeitsvorbereitungen beschäftigt, dass sie sich – falls sie aufwacht – nicht auch noch darum schert, was wir beide tun oder lassen.«
»Hä?« Wie üblich war er zu träge, mir zu widersprechen. Was mir gerade recht war, denn ich hätte mich ohnehin nicht umstimmen lassen.
In drei Stunden würde meine älteste Schwester Elissa heiraten. In vier Stunden – fünf, wenn das Hochzeitsfrühstück länger dauerte als gedacht –, würde sie weggehen und sich unser aller Leben für immer verändern. Selbst wenn sie zu Besuch kam, würde sie von nun an immer ihren Mann mitbringen, und so sehr ich den gutmütigen Mr Collingwood auch mochte, es würde nie wieder so sein wie früher. Zum Beispiel würden die beiden in einem Zimmer schlafen, und ich konnte nicht mehr zu jeder Tages- und Nachtzeit zu Elissa hineinschlüpfen, um mir Trost, einen guten Rat oder Hilfe zu holen, wenn ich wieder Streit mit Stiefmama hatte. Oft ließ ich mich auch einfach nur von ihr umsorgen, was sie ja schon tat, solange ich lebte. Meine Mutter war nämlich kurz nach meiner Geburt gestorben, und meine beiden älteren Schwestern hatten sich um mich gekümmert.
Mit den Jahren ging es mir allerdings zunehmend auf die Nerven, wie etepetete und überheblich Elissa war und mir dauernd Vorträge über schic